Das Echo der Vergangenheit
vergewissern, dass Sofie damit einverstanden war, aber er wollte es nicht vor Lance tun. Denn der war eindeutig dagegen. Verständlicherweise. Wenn er die Parallelen bedacht hätte, bevor er Annie hergebracht hatte, hätte er sich vielleicht anders entschieden. Oder vielleicht auch nicht.
Sofie wusste, wie man Nein sagte, und hatte auch keine Skrupel, es ihm gegenüber zu tun. Sie hätte sich weigern können, aber es überraschte ihn nicht, dass sie es nicht getan hatte. Wer konnte Annie Price schon widerstehen? Sie hatte sein eigenes Herz erobert, obwohl er immer versuchte, emotionale Distanz zu halten. Er konnte sich keinen besseren Ort für die Kleine vorstellen, um diese Krise zu überstehen, als hier bei Sofie.
»So.« Er tupfte sich den Mund ab. »Ich komme später mit den nötigen Utensilien vorbei.« Das Krankenhaus hatte ihn lediglich mit ein paar Windeln nach Hause geschickt, aber sie brauchte noch mehr. Vielleicht ein Plüschtier oder etwas, das ihr eine Freude machte. Mit zwei Jahren aß sie sicherlich keine Babynahrung mehr, aber vielleicht ein paar kleinkindertaugliche Snacks.
»In Ordnung.« Sofie lächelte. »Komm zum Mittagessen.« Und im gleichen Tonfall fügte sie hinzu. »Makkaroni mit Käse.«
»Klingt gut.« Er stand auf und strich mit einem Finger über Annies Wange. »Sei schön brav.«
Sie sagte nichts, sondern kuschelte sich noch etwas enger an Sofie.
Dann richtete er sich auf. »Bis später dann. Danke.«
Zu seiner Überraschung zog Lance sich seine Lederjacke an und brachte ihn hinaus. Weniger überraschend war, dass er nicht lange fackelte. »Meine Schwester ist innerlich wie äußerlich eine tolle Frau. Ich verstehe deine Gefühle für sie, aber …« Er zog den Schlüssel zu seiner Harley aus der Tasche. »Wenn du ihr wehtust, reiße ich dir das Herz aus dem Leib.«
Matt starrte ihn an, doch dann grinste Lance, bevor er zu seinem Motorrad ging. Ein Witz. Es war ein typischer Scherz gewesen, wie er in Straßengangs üblich war, mit einem Bronx-Akzent vorgetragen, aber als die Harley aufheulte und Lance im Vorbeifahren die Hand hob, war er nicht wirklich überzeugt davon, dass Lance nur einen Witz gemacht hatte.
* * *
Annie hatte den ganzen Vormittag nichts gesagt, kein einziges Wort, nur ein Wimmern, wenn sie etwas wollte, und kleine Seufzer, wenn sie etwas nicht wollte. Ganz anders als Carly, deren Wortschatz mit zwei Jahren schon so groß war, dass es den Leuten auffiel, wo immer sie war. Und beim Einschlafen hatte ihr Carly so Fragen gestellt wie »Was bedeutet altklug, Sofie?«
Annie war gerade zwei geworden und war damit in einem kritischen Alter. Sofie klebte die Windel zu und betrachtete den runden Bauch mit dem kleinen Bauchnabel – und die blauen Flecken an einem Bein und am unteren Rücken. Zärtlich strich Sofie über die Stellen und spürte dabei förmlich selbst den Schmerz und die Ungerechtigkeit, die diesem Kind angetan worden waren.
Annie streckte die Arme nach ihr aus und sie hob das Kind hoch und drückte es an ihre Brust, bis ihrer beider Herzschlag im Einklang war. »Du bist geliebt. Du bist schön. Du bist ein Kind Gottes.« Das waren die Worte, die Nonna zu ihnen allen gesagt hatte, jedes Mal, wenn sie einen von ihnen im Arm gehalten hatte.
Annie machte Greifbewegungen mit der Hand und Sofie nahm die Schmusedecke, die noch vor Kurzem Diego getröstet hatte, und legte sie zwischen sich und Annie, wie ein weiches Polster, das sich ihren Körpern anpasste. Annie nahm die Finger in den Mund und Sofie atmete den Duft ihres frisch gewaschenen Haares ein. Sie hatte die Kleine im Waschbecken gebadet, vorsichtig darauf bedacht, den Gips nicht nass zu machen.
Sie brachte Annie zu Nonna, die in ihrem Polstersessel in der Ecke beim Herd wartete, aber Annie ließ ihren Hals nicht los. Sofie hatte noch nie erlebt, dass ein kleines Kind Nonnas großmütterlicher Liebe widerstehen konnte. Vielleicht war es zu viel für das Kind, noch ein Paar Arme, noch einen Schoß zu verarbeiten.
»Setz dich.« Nonna rappelte sich auf. »Ich koche.«
Ein Außenseiter wäre vielleicht entsetzt darüber gewesen, dass eine Einundneunzigjährige ihren Platz jemand anderem überließ, aber Sofie gehorchte, weil sie wusste, dass Nonna sich entschieden hatte, ihre letzten Tage genauso zu füllen, wie sie die anderen gefüllt hatte. Während Annie zu einem schlaffen Gewicht auf ihrem Schoß wurde, beobachtete sie Nonna dabei, wie sie Makkaroni mit Salz und Pfeffer kochte und
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