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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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Der feine Lehm war so klebrig, dass sie mit ihren Schuhen hängenblieb und nur mühsam vorankam. An einer grasbewachsenen Stelle streifte sie ihn ab. Obwohl sie sich immer schlechter fühlte, drang sie noch tiefer in den Wald ein, als würde er sie rufen. Die Bäume standen nun so dicht, dass der Regen nicht durch die Wipfel gesickert war. Dadurch war der Boden trocken und sauber, als hätten ihn Lamias gefegt, jene Wald- und Flussfeen, die ihre langen blonden Haare mit Goldkämmen pflegten.
    Die Baumwipfel über ihr waren wie ein Gewölbe. Sie hatte das Gefühl, eine Kathedrale zu betreten, spürte einen Schauder, die Gegenwart Gottes. Ergriffen hob sie den Blick, und plötzlich wich der Zorn aus ihrem Körper wie bei einem Aderlass, der gleichzeitig heilt und schwächt. Tränen strömten ihr übers Gesicht, ein Schluchzen, das tief aus ihrer Seele kam, schüttelte sie, raubte ihr alle Kraft, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Wie eine Druidin umklammerte sie einen Baum und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ohne loszulassen, glitt sie erschöpft zu Boden. Das Weinen ließ nach, aber ihre Seele fühlte sich an wie ein Haus auf einer Klippe, bei dem jemand Türen und Fenster hatte offen stehen lassen und durch das nun der Sturmwind brauste und alles durcheinanderwirbelte. Ihr Zorn kehrte wieder, stieg aus den dunkelsten Winkeln ihrer Seele auf, nahm den Raum ein, den die Verzweiflung geschaffen hatte; ein blinder Zorn loderte in ihr auf wie ein vom Wind angefachtes Feuer.
    Plötzlich ertönte ein Pfiff so schrill wie das Abfahrtsignal eines Zuges. Sie drehte sich um. Mit der Hand an der Pistole horchte sie. Nichts. Dann wieder Pfiffe, einmal lang, einmal kurz. Sie stand auf und versuchte zu erkennen, ob zwischen den Bäumen jemand war. Aber da war niemand.
    Dann wieder ein Pfiff, wieder hinter ihr, kurz, wie um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Überrascht drehte sie sich um und sah gerade noch, wie eine große Gestalt hinter einer Eiche verschwand. Sie legte eine Hand an ihre Pistole, überlegte es sich aber anders, weil sie sich nicht bedroht fühlte. Reglos stand sie da und sah zu der etwa hundert Meter entfernten Stelle. Plötzlich bewegten sich wenige Meter rechts davon niedrige Äste, und zum Vorschein kam langsam, als führte sie einen alten Tanz auf, eine Gestalt mit graubrauner Mähne, die ihren Blick mied. Sie gab sich lange genug zu erkennen, damit Amaia sie deutlich sehen konnte, und verschwand dann wieder hinter der Eiche. Eine Weile verharrte Amaia atemlos. Innerer Frieden erfüllte sie, wie sie es noch nie erlebt hatte, das Gefühl, Zeuge eines Wunders geworden zu sein. Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Wie verzaubert lief sie zurück zu ihrem Auto.
    Als sie einstieg, sah sie im Rückspiegel ihr immer noch lächelndes Gesicht. Dann nahm sie ihr Handy. Sechs Anrufe, alle von James. Sie suchte in ihrem Notizbuch die Nummer von Dr. Takchenko heraus und rief sie an, doch der Wählton brach abrupt ab. Sie ließ den Motor an, fuhr vorsichtig den Waldweg zurück und suchte eine Stelle mit besserem Empfang. Dann probierte sie es noch einmal, und tatsächlich begrüßte sie am anderen Ende der Leitung Nadia Takchenko mit ihrem starken Akzent.
    »Inspectora Salazar, wo sind Sie? Ich höre Sie so schlecht.«
    »Dr. Takchenko, Sie haben im Wald doch mehrere Kameras installiert, oder?«
    »Ja.«
    »Ich war gerade an der Stelle, an der wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Erinnern Sie sich?«
    »Ja, dort ist zum Beispiel eine Kamera.«
    »Ich glaube, ich habe gerade einen Bären gesehen.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ziemlich.«
    »Inspectora, nehmen Sie es mir nicht übel, aber wenn Sie nicht sicher sind, dann war es auch kein Bär.«
    Amaia schwieg.
    »Sie wissen also nicht, was Sie gesehen haben.«
    »Doch.«
    »Dann schlage ich Folgendes vor, Inspectora«, sagte die Wissenschaftlerin. »Ich sehe mir die Aufnahmen an und melde mich dann bei Ihnen.«
    »Danke!«
    »Bitte!«
    Amaia legte auf und rief James an. Als er abnahm, sagte sie nur:
    »Ich fahre jetzt nach Hause, mein Schatz.«

37
    W ie immer lief der Fernseher, und ein Duft nach Fischsuppe und warmem Brot erfüllte das Haus. Alles wie gewöhnlich, aber eine Vielzahl von Details verrieten der Ermittlerin in ihr, dass etwas anders war. Offenbar hatten die anderen über sie gesprochen, und die negative Energie ihrer Worte hing in der Luft wie eine dunkle Gewitterwolke. Sie setzte sich an den Kamin und nahm dankbar den Tee entgegen, den James ihr

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