Das Echo dunkler Tage
gekocht hatte. Während sie daran nippte, spürte sie die Blicke der anderen auf sich ruhen. Wahrscheinlich waren sie nur besorgt, aber trotzdem empfand sie es als Angriff auf ihre Intimsphäre. Etwas in ihr rief: Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe? Die blinde Wut, die sie im Wald befallen hatte, flammte wieder auf. Merkten sie denn nicht, dass sie sie mit ihrer Besorgnis nur noch wütender machten? Warum benahmen sie sich nicht ganz normal? Sie sehnte sich nach dem inneren Frieden, der sie im Wald erfüllt hatte. Der Pfiff hallte noch in ihr nach, und die Erinnerung an das, was geschehen war, löste ihre Anspannung. Sie sah ihn vor sich, wie er hinter dem Baum hervorgekommen war, wie gelassen er sich bewegt hatte, sich gezeigt hatte, ohne sie anzusehen. Geschichten aus dem Katechismusunterricht fielen ihr ein, über die Marienerscheinungen der heiligen Bernadette in Lourdes oder die der Hirtenkinder in Fátima. Sie hatte sich immer gefragt, warum die Kinder nicht vor Schreck davongelaufen waren. Wie hatten sie so sicher sein können, dass es die Jungfrau war? Warum hatten sie keine Angst gehabt? Sie hatte nach der Waffe gegriffen und sie dann doch nicht gezogen, weil dieser tiefe Friede sie erfüllt hatte, diese unbändige Freude, und jeden Zweifel vertrieben hatte, jede Spur von Angst, jeden Schmerz.
Aber sie durfte es niemandem erzählen. Die Polizistin, die Frau des 21. Jahrhunderts sträubte sich dagegen. Es war ein Bär gewesen, es musste ein Bär gewesen sein.
»Worüber lachst du?«, fragte James.
»Was?«
»Du hast gerade gelacht«, erklärte er sichtlich erfreut.
»Oh … Darüber darf ich nicht sprechen«, entschuldigte sie sich verwundert, welche Wirkung allein die Erinnerung an die Geschehnisse auf sie hatte.
»Na gut«, sagte er. »Hauptsache, du bist wieder etwas fröhlicher als in den letzten Tagen.«
Das Abendessen verlief ruhig. Engrasi erzählte von einer Freundin, die nach Ägypten fahren würde, und James schilderte seinen Besuch auf dem Wintermarkt in einem Nachbardorf, auf dem man offenbar das beste Gemüse im ganzen Tal bekam. Ros machte kaum den Mund auf, sah Amaia nur lange und besorgt an, wodurch deren schlechte Laune wiederkehrte. Kaum war das Essen beendet, sagte Amaia, sie sei müde, und stand auf. Sie war schon auf der Treppe nach oben, als Engrasi sie stoppte.
»Amaia. Ich weiß, dass du schlafen musst, aber ich finde, wir sollten vorher reden.«
Amaia blieb auf halber Treppe stehen und drehte sich langsam um, riss sich zusammen, konnte ihren Ärger aber nicht ganz verbergen.
»Danke, dass du dir Sorgen machst, Tante, aber mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie auch an ihre Schwester und James gerichtet, die hinter Engrasi wie ein griechischer Chor vor der Treppe Aufstellung genommen hatten. »Ich habe seit zwei Nächten nicht geschlafen und stehe unter großem Druck.«
»Ich weiß, Amaia, aber manchmal reicht schlafen nicht aus, um sich zu erholen.«
»Tante Engrasi …«
»Erinnerst du dich noch, worum du mich gebeten hast, als deine Schwester dir die Karten gelegt hat? Ich würde sagen, es ist jetzt so weit. Ich werde dir die Karten legen, und dann sprechen wir über das, was dich quält.«
»Tante Engrasi, bitte«, flehte sie und schielte dabei zu James.
»Genau deswegen, Amaia. Findest du nicht, dass dein Mann es endlich erfahren sollte?«
»Was erfahren?«, fragte James.
Engrasi sah Amaia an, als bäte sie um Erlaubnis.
»Himmelherrgott, habt Erbarmen mit mir!«, rief sie und ließ sich auf eine Stufe fallen. »Ich bin hundemüde und kann nicht mehr. Wir machen es morgen, versprochen, ich habe mir den Tag freigenommen. Aber heute kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.«
James schien sich damit zufriedenzugeben, auch wenn er neugierig geworden war. Die Aussicht, den morgigen Tag mit Amaia zu verbringen, versöhnte ihn.
»Wunderbar. Morgen ist Sonntag. Wir haben überlegt, ob wir nicht in die Berge fahren. Und hinterher gibt’s Lammbraten. Engrasi hat auch Flora dazu eingeladen.«
Die Vorstellung, mit ihrer älteren Schwester an einem Tisch zu sitzen, war alles andere als verlockend, aber weil sie das Gespräch so schnell wie möglich beenden wollte, stimmte sie zu.
»Gute Nacht«, sagte sie, stand auf und huschte die Treppe hinauf, bevor die anderen noch etwas hinzufügen konnten.
Special Agent Dupree nahm die Sachen entgegen, die Antoine Meire ihm in einer Tüte reichte. Touristen, die zum Karneval in der Stadt waren, liebten seinen Laden und
Weitere Kostenlose Bücher