Das Echo dunkler Tage
pickelgesichtiger Achtzehnjähriger an der Rezeption. Amaia fragte sich, woher sich das Hotel seine Empfangsleute beschaffte, denn auch dieser Mitarbeiter war ganz versunken in ein lautes Ballerspiel. Sie ging einfach an ihm vorbei und nahm die Treppe in den zweiten Stock. Zimmer 202 war eines der ersten auf dem Flur. Sie klopfte. Dr. Takchenko öffnete sofort, als hätte sie hinter der Tür gestanden und gewartet. Das Zimmer war gemütlich und angenehm beleuchtet. Auf dem Bett lagen ein Notebook und zwei Mappen aus braunem Karton.
»Ich bin wirklich überrascht, dass Sie hier sind«, sagte Amaia zur Begrüßung.
Dr. González entwirrte einige Kabel, stellte das Notebook auf den Schreibtisch und schaltete es ein. Dann wandte er sich Amaia zu.
»Die Bilder, die wir gleich sehen werden, sind vom vergangenen Freitag. Aufgenommen wurden sie an Beobachtungspunkt sieben, also dort, wo Sie den Bären gesehen haben. Wundern Sie sich nicht, dass sie etwas unscharf sind, das liegt daran, dass wir die Kameras sehr hoch aufhängen, um ein möglichst breites Panorama einzufangen, schließlich nehmen Tiere ja andere Pfade als Menschen.«
Er startete die Aufnahme. Zu sehen war ein Buchenwald. Einige Sekunden lang passierte nichts. Dann plötzlich huschte ein Schatten ins Bild, am oberen Rand des Monitors. Amaia erkannte ihre blaue Daunenjacke.
»Das müssten Sie sein«, sagte Dr. Takchenko.
»Stimmt.«
Die Gestalt bewegte sich am oberen Bildrand von links nach rechts und verschwand.
»Jetzt tut sich zehn Minuten lang nichts. Raúl hat sie rausgeschnitten, damit wir schneller zu dem kommen, was uns interessiert.«
Amaia konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Als sie ihn sah, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie hatte nicht geträumt, und es war auch keine stressbedingte Halluzination gewesen. Da war er. Sah aus wie ein Mensch, über zwei Meter groß, lange dunkle Haare, die über einen muskulösen Oberkörper fielen. Der untere Teil war so stark behaart, dass es aussah, als trüge er eine Fellhose. Er streckte seine Arme aus und kratzte mit seinen langen Fingern Flechten von einem Baum. Nach einigen Minuten hob er den majestätischen Kopf und blickte sich um. Amaia war wie gebannt. Sein Kopf hatte etwas von einer Raubkatze, einem Löwen, allerdings ohne Schnauze. Seine Gesichtszüge waren rundlich und markant, er wirkte intelligent, friedlich. Dunkle Barthaare bedeckten sein Gesicht und teilten sich am Kinn in zwei Strähnen, die bis zum Bauch reichten.
Das Wesen hob langsam den Blick und sah einen Augenblick in die Kamera. Seine in mehreren Gelbtönen schimmernden Augen erstarrten, als Dr. González auf Stopp drückte.
Amaia war überwältigt von der Schönheit und Bedeutung dessen, was sie gerade gesehen hatte. Dr. Takchenko trat an den Tisch und klappte den Bildschirm zu, damit Amaia sich aus dem Bann dieser Augen löste.
»Ist das Ihr Bär?«
Weil sie nicht wusste, wie ihre Antwort aufgenommen würde, blieb Amaia im Vagen.
»Ich nehme es an.«
»Dann lassen Sie sich von mir gesagt sein: Das ist kein Bär.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Sind wir«, schaltete sich ihr Mann ein. »Es gibt keine Bärenart mit diesen Charakteristika.«
»Vielleicht ein anderes Tier?«, schlug Amaia vor.
»Ja, aber ein mythologisches«, erwiderte er. »Inspectora Salazar, ich weiß, was es ist, meine Frau weiß es auch. Und Sie? Was glauben Sie?«
Amaia zögerte, versuchte abzuschätzen, welche Folgen eine ehrliche Antwort haben würde. Die beiden Wissenschaftler schienen in Ordnung zu sein, aber wie würden sie reagieren?
»Ich glaube nicht, dass es ein Bär ist«, antwortete sie immer noch ausweichend.
»Wie ich sehe, wollen Sie nichts riskieren. Dann sage ich Ihnen, was das ist. Das ist ein Basajaun.«
Amaia holte tief Luft. Vor Anspannung zitterten ihr leicht die Beine, was sie vor den Wissenschaftlern zu verbergen suchte.
»Mag sein«, lenkte sie ein. »Aber unabhängig davon, was das für ein Wesen ist, stellt sich doch die Frage: Was sollen wir jetzt tun?«
Dr. Takchenko stellte sich zu ihrem Mann und sah sie an.
»Inspectora Salazar, Raúl und ich sind Wissenschaftler. Unser Hauptaugenmerk gilt der Erforschung und dem Schutz der Natur im Allgemeinen und dem der Sohlengänger im Besonderen. Was wir auf dieser Aufnahme gesehen haben, ist kein Bär. Es ist auch kein anderes Tier. Mein Mann und ich glauben, dass es sich um einen Basajaun handelt. Und wir glauben auch, dass wir ihn nicht zufällig mit der Kamera
Weitere Kostenlose Bücher