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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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was du wolltest, musstest nie in der Backstube helfen. Das mit Mama war ein Unfall.«
    Amaia vergrub ihr Gesicht in den Händen und atmete durch die Finger hindurch.
    »Es war kein Unfall, Flora. Sie wollte mich töten.«
    »Das hast du doch nur aufgebauscht. Sie hat mir erzählt, wie’s war. Sie hat dir eine Ohrfeige gegeben, und du bist mit dem Kopf gegen den Tisch geknallt.«
    »Sie hat mich mit einer Teigrolle angegriffen«, flüsterte Amaia noch immer zwischen den Fingern hindurch. Der Schmerz übertrug sich auf ihre Stimme, die so brüchig wurde, als würde sie gleich für immer verstummen. »Sie hat auf mich eingeschlagen, und ich habe den Arm hochgerissen, um mich zu schützen, und mir dabei die Finger gebrochen. Und als ich auf dem Boden lag, hat sie weiter auf mich eingeschlagen.«
    »Das ist gelogen«, schrie Flora und sprang auf. »Du bist eine Lügnerin!«
    »Setz dich wieder hin, Flora!«, befahl Engrasi.
    Flora setzte sich und sah Amaia an, die sich nach wie vor hinter ihren Händen versteckte.
    »So, und jetzt hörst du mir zu! Deine Schwester lügt nicht. Wir haben an jenem Abend Dr. Martínez gerufen, den Arzt, bei dem auch deine Mutter in Behandlung war. Er war derjenige, der uns geraten hat, dass Amaia bei mir wohnen soll. Es stimmt, dass sie Amaia nur einmal angegriffen hat, aber damals hat sie sie fast umgebracht. Amaia hat monatelang keinen Fuß vor die Tür gesetzt, bis ihre Wunden verheilt und die Haare nachgewachsen waren.«
    »Glaube ich nicht. Mama hat Amaia eine geknallt, und weil sie noch klein war, ist sie hingefallen. Die Verletzung stammt vom Sturz. Es war eine normale Ohrfeige, die eine Mutter einem Kind manchmal gibt, zumindest damals. Aber du«, sagte sie zu Amaia und verzog verächtlich den Mund, »du hast schon immer einen Groll gegen sie gehegt, deshalb hast du ihr auch nicht geholfen, als sie deine Hilfe brauchte. Du bist auch nicht besser als dieser Stiefvater.«
    »Was?«, rief Amaia und nahm die Hände vom tränenüberströmten Gesicht.
    »Du hättest ihr beistehen müssen, damals im Krankenhaus.«
    Amaia sprach jetzt wieder leise, fast unhörbar, weil sie ihre wachsende Wut im Zaum halten musste.
    »Ich konnte ihr nicht helfen, niemand konnte das, aber ich am allerwenigsten.«
    »Du hättest sie besuchen können«, warf Flora ihr vor.
    »Sie will mich töten, Flora«, schrie Amaia plötzlich.
    James stand auf, umarmte Amaia von hinten und sagte:
    »Flora, es reicht. Amaia hat schon genug gelitten, ich verstehe nicht, warum du darauf herumreitest. Jetzt, wo ich weiß, was damals passiert ist, kann ich nur sagen, dass deine Mutter froh sein kann, dass sie nicht im Gefängnis oder in der Psychiatrie gelandet ist. Wahrscheinlich wäre das sogar besser für sie gewesen, auf jeden Fall aber für Amaia, die noch ein Kind war und mit dem Trauma leben musste, dass ihre eigene Mutter sie umbringen wollte. Sie musste es verschweigen und von zu Hause ausziehen, als wäre sie auch noch schuld daran. Was mit eurer Mutter passiert ist, ist traurig. Und es tut mir leid, dass sie damals nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus gestorben ist. Aber das kannst du doch nicht Amaia vorwerfen.«
    Flora sah ihn entgeistert an.
    »Gestorben? Du hast ihm erzählt, dass unsere Mutter tot ist?«, schrie Flora außer sich vor Wut.
    James sah Amaia verwirrt an.
    »Direkt gesagt hat sie es nicht, aber ich bin davon ausgegangen …«
    Amaia hatte sich beruhigt und wandte sich ihm zu.
    »Nach meinem letzten Besuch fiel meine Mutter in einen katatonischen Zustand, tagelang lag sie einfach nur starr im Bett. Aber eines Morgens, als eine Krankenschwester sich über sie beugte, um ihre Temperatur zu messen, richtete sie sich plötzlich auf, packte die arme Frau an den Haaren und biss ihr ein Stück Fleisch aus dem Hals und schluckte es runter. Als die anderen Krankenschwestern ins Zimmer gerannt kamen, lag ihre Kollegin auf dem Boden, und unsere Mutter, der noch das Blut aus dem Mund tropfte, war über ihr und schlug auf sie ein. Die Frau erlitt schwere Verletzungen und brauchte mehrere Bluttransfusionen. Wäre sie nicht in einem Krankenhaus gewesen und sofort operiert worden, hätte sie nicht überlebt.«
    Flora sah Amaia mit tödlicher Verachtung an, ihr Mund hatte sich zu einem Schlitz verengt.
    »Wir hatten Glück.«, fuhr Amaia fort. »Unsere Mutter wurde auf richterliche Anweisung hin in die Psychiatrie eingeliefert, und dem Krankenhaus wurde eine Teilschuld attestiert, weil man die Gefahr trotz bekannter

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