Das Echo dunkler Tage
Campingaufseher, ein Mann Mitte fünfzig, der schon mehrfach angezeigt worden war, weil er Camperinnen in der Dusche nachspioniert hatte. Merkwürdig war, dass er der Leiche die Haare gekämmt hat, mit perfektem Mittelscheitel, als wollte er sie für ein Foto zurechtmachen. Übrigens stritt der Mann alles ab, aber Zeugen hatten beobachtet, wie er in dem Zelt des Mädchens rumgeschnüffelt hatte und von ihr erwischt worden war. Hat zwanzig Jahre gekriegt. Allerdings hatten wir ein Jahr später wieder einen Fall, bei dem der Täter sein Opfer auf diese Art gekämmt hatte. Ein Mädchen aus einer Wandergruppe war verschwunden. Zuerst dachten alle, sie hätte sich verirrt, und es wurden Suchtrupps losgeschickt. Zehn Tage später haben wir sie gefunden. Sie lag nackt unter einem Baum und war merkwürdig dehydriert, wie mumifiziert, aber das kann Ihnen ein Rechtsmediziner besser erklären. Ihr Zopf war gelöst, die Haare waren perfekt nach beiden Seiten gekämmt.«
Amaia konnte das Zittern ihrer Beine kaum unterdrücken.
»Lag etwas auf der Leiche?«
»Nein, aber die beiden Handflächen zeigten nach oben, was merkwürdig aussah. Alle ihre Sachen waren verschwunden: Kleid, Slip, Schuhe … Wobei die Schuhe später aufgetaucht sind, überhaupt wurde sie nur aufgrund der Schuhe entdeckt: Sie standen dort, wo der Weg in den Wald hineinführt.«
»Nebeneinander, wie bei jemandem, der schlafen geht. Oder schwimmen«, zitierte Amaia.
»Genau. Woher wissen Sie das?«
»Wurde der Täter gefasst?«
»Nein, es gab weder Spuren noch Verdächtige. Freunde wurden befragt, Familienangehörige, das ganze Programm. Wie Teresa Klas waren diese Mädchen jung, fast noch Kinder, hatten das ganze Leben noch vor sich. Und dann kam jemand und hat ihnen die Flügel gestutzt.«
»Gibt es eine Möglichkeit, an diese Akten heranzukommen?«, fragte Amaia.
»Wie Sie vermutlich wissen, bin ich inzwischen Schriftsteller, und als ich aus dem Polizeidienst ausgeschieden bin, habe ich die Akten all meiner Fälle kopiert.«
Auf der Rückfahrt nach Elizondo dachte sie angestrengt nach. Die Akten hatten bestätigt, was sich bereits angedeutet hatte. Die Fälle wiesen Gemeinsamkeiten auf: die jungen Opfer, die Vorgehensweise. Und die Morde waren im Laufe der Zeit immer perfekter geworden, immer ausgefeilter. Sie hatte den Ursprung der Verbrechen entdeckt, deren Spur sich durchs ganze Tal bis nach Vera de Bidasoa oder noch weiter zog. Sie war sich jetzt sicher, dass der Täter in Elizondo lebte. Teresa war sein erstes Opfer gewesen, eine spontane Tat. Die anderen Opfer hatte sich der Mörder dann gezielt gesucht und hatte sich immer weiter von seinem Wohnort entfernt. Teresa, die nicht besonders intelligent, aber sehr schön gewesen sein soll, ein »leichtes Mädchen«, wie ihre Großmutter Juanita es ausgedrückt hätte, jedenfalls kokett, sich ihrer Wirkung auf Männer bewusst, ein Mädchen, das gern ihre Reize zeigte. Der Mörder hatte sich Tag für Tag dieser Versuchung ausgesetzt gesehen, diesem schmutzigen, bösen Mädchen, das eigentlich mit Puppen spielen sollte und stattdessen Frau spielte. Bestimmt hatte er es irgendwann nicht mehr ertragen und sie umgebracht. Vergewaltigt hatte er sie nicht, denn er wollte ja vielmehr zeigen, dass sie noch ein Kind war, das sein Ideal von Anstand verletzt hatte. Danach hatte er seine Technik verbessert, hatte die Kleidung durchtrennt, die Handflächen nach oben gedreht, die Haare zu beiden Seiten gekämmt. Und plötzlich hatte er aufgehört. Vielleicht hatte er wegen eines kleineren Delikts im Gefängnis gesessen, oder er war in eine andere Gegend gezogen. Bis neulich. Dann war er zurückgekehrt, reifer, kälter, perfekter. Vielleicht hatte er wieder zu morden begonnen, weil es Februar war, als eine makabre Hommage an Teresa. Aus dem Bonbon war ein süßes Stück Kuchen geworden, aber es war eindeutig seine Handschrift.
43
U m vier Uhr morgens war Amaia zu James ins Bett geschlüpft wie ein blinder Passagier. Sie war hundemüde gewesen, hatte aber Angst gehabt, vor Nervosität nicht einschlafen zu können. Tatsächlich war sie sofort in einen tiefen Schlaf gesunken, der eine Labsal für Körper und Geist gewesen war. Als sie kurz vor Tagesanbruch aufwachte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit heiter und ausgeglichen. Sie ging hinunter ins Wohnzimmer, brauchte eine Weile, bis sie den Kamin entfachen konnte. In ihrer Kindheit hatte sie dieses Ritual jeden Morgen ausgeführt, aber seither war viel
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