Das Echo dunkler Tage
vorbeizufahren. Am Eingang standen acht Autos, in denen niemand saß. Gemächlich schlenderte sie zwischen den Gräbern hindurch. Ihre Schuhe wurden wegen des hohen Grases ganz nass. Schließlich gelangte sie an das Grab, das sie gesucht hatte. Es tat ihr weh, dass eine Seite des eisernen Kreuzes gebrochen war. Auf dem Schild in der Mitte stand: Familie Aldube Salazar. Amaia war sieben Jahre alt gewesen, als ihre Großmutter Juanita starb. An ihr Gesicht konnte sie sich nicht mehr erinnern, sehr wohl aber daran, wie es bei ihr gerochen hatte, süß, aber auch leicht scharf, wie nach Muskatnuss, und in den Kleiderschränken nach Naphthalin und frisch gebügelter Wäsche. Auch an ihr weißes Haar erinnerte sie sich noch, das sie immer mit einer Nadel zu einem Dutt gesteckt hatte, ein ganzes Sortiment hatte sie davon gehabt, silberne Nadeln mit einer Blume als Kopf, in die kleine Perlen eingelassen waren. Es war ihr einziger Schmuck gewesen, abgesehen von einem kleinen Ring, den sie aber nie getragen hatte. Im Gedächtnis geblieben war ihr auch das rhythmische Auf und Ab, wenn sie auf ihrem Schoß gesessen hatte wie auf einem trabenden Pferd, und die Lieder, die ihre Großmutter ihr mit sanfter Stimme auf Baskisch vorgesungen hatte, traurige Lieder, die sie manchmal zum Weinen gebracht hatten.
»Großmutter«, flüsterte sie und lächelte.
Sie ging zum oberen Teil des Friedhofs und führte sich die Wege vor Augen, von denen Jonan gesprochen hatte. Plötzlich hörte sie ein heiseres Flüstern. Sie drehte sich um, aber da war niemand. Obwohl das Prasseln auf den Schirm die anderen Geräusche übertönte, glaubte sie, das Flüstern erneut zu hören. Sie klappte den Schirm zu und horchte. Tatsächlich, obwohl es laut auf die Gräber plätscherte, war es deutlich zu hören. Sie spannte den Schirm wieder auf und ging auf das Geräusch zu.
Da sah sie den Regenschirm. Er war rot, der Rand war mit granat- und orangenfarbenen Blumen gemustert. An diesem fahlen Ort, an dem selbst die unverwüstlichen Plastik- und Stoffblumen ausgewaschen waren, wirkte er seltsam deplatziert. Und noch seltsamer war, dass der Schirmträger ein Mann war. Reglos stand er da, Kopf und Rücken waren vollständig verdeckt. Obwohl der Schirm die Geräusche nach vorne lenkte, hörte Amaia, dass er weinte und etwas vor sich hin flüsterte.
Sie ging zurück zum Wegkreuz in der Friedhofsmitte und näherte sich von oben, weil sie von dort aus einen besseren Blick hatte. Der Mann stand vor der Familiengruft der Elizasus. Die Kränze und Gestecke auf der Marmorplatte stapelten sich so hoch, dass es wie ein Scheiterhaufen aussah. Die Blumen war welk und aufgeschwemmt, das Cellophanpapier von innen beschlagen. Amaia ging näher und erkannte an den schwarz-weißen Sportschuhen Ainhoas Bruder, der herzzerreißend weinte und immer wieder denselben Satz murmelte:
»Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.«
Amaia wollte nicht von ihm erkannt werden und wich zurück, aber er schien sie bemerkt zu haben und hob den Kopf. Sie konnte sich gerade noch unter ihren Schirm ducken und tat so, als betete sie an dem Grab, an dem sie gerade stand. Als sie das Gefühl hatte, dass er nicht mehr zu ihr herstarrte, zog sie den Regenschirm tief, nahm sicherheitshalber einen Umweg zurück zum Ausgang und fuhr ins El Kortarixar.
Engrasi und James hatten eine Flasche Rotwein auf dem Tisch stehen und unterhielten sich angeregt. Das Restaurant hatte Amaia schon immer gut gefallen, die Atmosphäre, die dunklen Holzbalken an der Decke, das Kaminfeuer, der vertraute Duft nach geröstetem Mais. Kaum war sie eingetreten, bekam sie auch schon Hunger. Mit dem gebratenen Kabeljau und dem T-Bone-Steak war sie einverstanden, aber Rotwein wollte sie lieber nicht und bestellte ein Wasser.
»Du willst diesen köstlichen Remelluri wirklich nicht mal probieren?«, fragte James verwundert.
»Mir steht noch ein hektischer Nachmittag bevor, und Wein macht mich nur schläfrig.«
»Heißt das, du kommst voran?«
»Bei manchen Fragen bin ich der Antwort schon ziemlich nah.«
Antworten sind nicht immer die Lösung des Rätsels, dachte sie.
Hungrig machten sie sich über das Essen her. Erst sprachen sie über Freddy, freuten sich darüber, dass es ihm besser ging, dann gab James einige Anekdoten über seine Anfänge als Künstler zum Besten. Als die Nachspeise gebracht wurde, klingelte Amaias Telefon. Sie stand auf und ging zur Tür, bevor sie den Anruf annahm.
»Jonan, schieß
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