Das Echo dunkler Tage
verriet kein Erstaunen, strahlte nichts Verletzliches aus, sondern war gezeichnet von ihrem Kampf ums Überleben, den sie bis zum bitteren Ende geführt hatte. Ihr scheinbares Lächeln wirkte dadurch umso entsetzlicher.
Amaia bemerkte rötliche Flecken, die sich vom Mund bis fast zum rechten Ohr zogen.
»Was sind das für rote Flecken?«
Die Assistentin nahm mit dem Wattestäbchen eine Probe.
»Auf den ersten Blick würde ich sagen, es handelt sich um …« – sie schnupperte an dem Wattestäbchen – »Gloss.«
»Gloss?«, sagte Zabalza fragend.
»Ein Lippenstift, Subinspector, ein fettreicher, Glanz erzeugender Lippenstift mit Fruchtgeschmack«, erläuterte Amaia.
Im Laufe ihrer Karriere bei der Mordkommission hatte Amaia an mehr Autopsien teilgenommen, als ihr lieb war. Ihr Soll an Sich-als-Frau-beweisen-Müssen hatte sie erfüllt, also schenkte sie sich den Rest. Jeder Pathologe gestand ein, dass der Ypsilonschnitt etwas Brutales hatte und mit der Operation an einem lebenden Menschen nicht vergleichbar war. Das Öffnen der Bauchhöhle, das Entnehmen und Wiegen der Organe war alles andere als angenehm, wenngleich der technische Aspekt dem Vorgang einiges von seinem Schrecken nahm. Wirklich sichtbar wurde das ganze Ausmaß des brutalen Akts erst, wenn die Leiche wieder gefüllt wurde und der Assistent die Wunde, die von den Schultern bis zur Mitte des Brustkorbs und von dort am Bauchnabel vorbei bis zum Becken reichte, wieder zunähte. Wenn es sich um ein Kind oder, wie in diesem Fall, um ein junges Mädchen handelte, wirkte die Leiche in diesem Moment vollkommen schutzlos, wie geschändet, misshandelt von den groben Stichen, wie eine Stoffpuppe mit Reißverschluss, die nie wieder heil werden würde.
9
D em Licht nach war es gegen sieben Uhr morgens. Amaia weckte Jonan, der mit seinem Anorak bedeckt auf dem Rücksitz schlief.
»Guten Morgen, Chefin! Wie ist es gelaufen?«, fragte er und rieb sich die Augen.
»Wir müssen zurück nach Elizondo. Hat Montes sich gemeldet?«
»Nein, ich dachte, er wäre bei der Autopsie dabei gewesen.«
»War er aber nicht, und ans Handy geht er auch nicht, springt immer nur die Mailbox an«, erklärte Amaia verärgert. Subinspector Zabalza, der neben Jonan Platz genommen hatte, räusperte sich.
»Ich sollte mich da vielleicht nicht einmischen, aber nur zu Ihrer Beruhigung: Als wir in der Schlucht fertig waren, hat Inspector Montes zu mir gesagt, er müsse los und sich umziehen, er sei zum Abendessen verabredet.«
»Zum Abendessen?«, rief Amaia, die ihre Entrüstung nicht verbergen konnte.
»Ja, er wollte auch wissen, ob ich Sie nach Pamplona begleite, und als ich ihm das betätigt habe, war er beruhigt. Außerdem nahm er an, dass Jonan ebenfalls bei der Autopsie dabei sein würde, also war für ihn alles okay.«
»Alles okay? Er hatte hier zu sein und basta«, regte sich Amaia auf, bereute aber sofort, dass sie sich vor ihrem Untergebenen hatte gehen lassen.
»Tut mir leid. Für mich hatte es sich so angehört, als hätten Sie ihm die Erlaubnis erteilt.«
»Schon gut, ich werde mit ihm reden.«
Obwohl sie nicht geschlafen hatte, war Amaia kein bisschen müde. Im Kommissariat von Elizondo lagen die vergrößerten Fotos der drei Mädchen vor ihr auf dem Tisch: Augen, die ins Leere starrten, Gesichter, die unterschiedlich waren und doch so gleich im Tod. Sie betrachtete die Aufnahmen von Carla und Ainhoa genauer.
In diesem Augenblick trat Montes ein. Er brachte zwei Tassen Kaffee, von denen er eine Amaia hinstellte und sich dann in einigem Abstand hinsetzte. Sie hob ihren Blick und sah ihn durchdringend an, bis er wegschaute. Im Zimmer befanden sich außer ihrem Team und ihr noch fünf weitere Beamte. Sie schob die Fotos in die Mitte des Tisches.
»Meine Herren, fällt Ihnen etwas auf?«
Erwartungsvoll beugten sich alle Anwesenden nach vorne.
»Ich gebe Ihnen einen Tipp.« Sie fügte das Foto von Anne hinzu. »Das ist Anne Arbizu, das Mädchen, das gestern Nacht ermordet wurde. Sehen Sie die rötlichen Flecken, die sich vom Mund bis fast zum Ohr erstrecken? Die stammen von rosafarbenem Lipgloss, einer Art fetten Lippenstift. Und jetzt sehen Sie sich die Fotos bitte noch mal an.«
»Die beiden anderen Mädchen tragen keinen Lippenstift«, sagte Iriarte.
»Genau. Die anderen Mädchen tragen keinen Lippenstift, und ich will wissen, warum. Das sind moderne Mädchen mit hochhackigen Schuhe, Taschen und Handys. Ist es da nicht merkwürdig, dass wir keinerlei Spuren
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