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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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ausfüllte, begrüßte sie. Die Leiche von Anne Arbizu war bereits entkleidet. Normalerweise enthüllte das kalte Licht noch die kleinste Unvollkommenheit, aber die weiße Haut des Mädchens war so makellos, dass es fast irreal wirkte, wie eine italienische Madonna aus Marmor.
    »Sie sieht aus wie eine Skulptur«, flüsterte sie.
    »Das habe ich auch schon zu Sofía gesagt«, stimmte Dr. San Martín ihr zu. Seine Assistentin hob zum Gruß die Hand.
    In diesem Moment trat Subinspector Zabalza ein.
    »Warten wir noch auf jemanden, oder können wir anfangen?«
    »Inspector Montes wollte noch kommen«, sagte Amaia und sah auf die Uhr. »Aber fangen Sie ruhig schon mal an!«
    Sie rief Montes an, aber es meldete sich nur die Mailbox. Wahrscheinlich saß er gerade im Auto. Im kalten Licht des Saals fielen ihr Details auf, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Auf der Haut klebten Haare, kurze, graubraune, ziemlich dicke Haare.
    »Sind das Tierhaare?«, fragte sie.
    »Sieht so aus. Auf der Kleidung waren auch welche. Die werden wir mit denen vergleichen, die wir bei Carlas Leiche gefunden haben.«
    »Wie viele Stunden ist sie Ihrer Einschätzung nach tot?«
    »Der Lebertemperatur nach zwei bis drei Stunden, würde ich sagen.«
    »Offenbar nicht lang genug, um Tiere anzulocken.«
    »Man müsste einen Förster fragen«, wandte Zabalza ein, »aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Tiere just an dieser Stelle trinken.«
    »Wieso? Ein Tier kommt doch problemlos den Abhang runter«, sagte San Martín.
    »Das schon, aber der Fluss ist an dieser Stelle ziemlich eng, da hätten Tiere kaum Fluchtmöglichkeiten. Deshalb trinken sie normalerweise an offenen Stellen, damit sie sehen und gesehen werden.«
    »Wie erklären Sie sich dann die Tierhaare?«
    »Vielleicht stammen sie von der Kleidung des Mörders.«
    »Möglich. Aber wer hat schon Tierhaare auf der Kleidung?«
    »Jäger, Förster, Schäfer«, schlug Jonan vor.
    »Tierpräparatoren«, meldete sich die Assistentin von San Martín zu Wort, die bis dahin geschwiegen hatte.
    »Gut, dann machen wir alle Leute in der Gegend ausfindig, die in Frage kommen. Der Mann, den wir suchen, muss außerdem ziemlich viel Kraft haben. Würde die Präsentation der Leiche nicht für die irre Fantasie eines Einzeltäters sprechen, hätte ich gesagt, wir haben es hier mit mehreren Tätern zu tun. Jedenfalls konnte man den Körper nicht einfach so diesen Abhang runtertragen. Und getragen wurde er, sonst hätte er Kratzer und Abschürfungen«, sagte Amaia.
    »Wir gehen also davon aus, dass das Mädchen schon tot war, als er sie runtergetragen hat?«
    »Kein Mensch würde freiwillig nachts zum Fluss runtersteigen, nicht mal mit einem Bekannten und schon gar nicht ohne Schuhe. Ich glaube, der Täter spricht die Mädchen an und bringt sie um, bevor sie Verdacht schöpfen. Vielleicht kennen sie ihn und sind deshalb unvorsichtig, vielleicht kennen sie ihn auch nicht, dann muss er sie auf jeden Fall schnell töten. Danach schleppt er sie zum Fluss und lebt seine Fantasien aus, und wenn er mit seinem Ritual fertig ist, hinterlässt er uns ein Zeichen, damit wir sein Werk betrachten können: die Schuhe.« Plötzlich verstummte Amaia und schüttelte den Kopf, als wäre sie gerade aus einem Traum erwacht. Alle sahen sie fragend an.
    »Schauen wir uns die Schnur mal genauer an«, sagte San Martín.
    Die Assistentin schob die Hände unter den Schädel und hob ihn an, damit Dr. San Martín die Schnur aus der tiefen Furche ziehen konnte. Der Mediziner untersuchte sorgfältig die beiden Enden, an denen etwas Weißliches haftete, eine Art Plastik oder Kleber.
    »Das ist neu, Inspectora: Hautreste. Offenbar hat er so stark gezogen, dass er sich geschnitten hat oder zumindest einen Kratzer zugefügt.«
    »Ich dachte, er benutzt Handschuhe, jedenfalls haben wir nie Fingerabdrücke gefunden«, wandte Zabalza ein.
    »Manchmal ziehen Mörder im entscheidenden Moment die Handschuhe aus, um den Genuss nicht zu schmälern, den ihnen das Töten bereitet.«
    Dr. San Martín bestätigte, dass Anne Arbizu sich gewehrt hatte. Vielleicht hatte sie etwas gesehen, das die anderen nicht gesehen hatten. Auf den ersten Blick waren die Fälle identisch, aber Amaia hatte das Gefühl, dass der Mörder diesmal nicht ganz zufrieden gewesen war, weil dieses Mädchen mit dem Engelsgesicht, das sein Meisterwerk hätte werden können, sich heftiger gewehrt hatte als die anderen. Er hatte alles mit der gleichen Sorgfalt inszeniert, aber Anne Arbizu

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