Das Echo dunkler Tage
Auswahl der Karten, der feierliche Moment, wenn sie sie umdrehte, obwohl sie schon wusste, welche Karte zum Vorschein kommen würde, der Augenblick, wenn sie die Beziehung zwischen den Karten herstellte und den Weg, den sie gehen musste, schlagartig vor sich sah. Tarotkarten sind genauso leicht oder schwer zu lesen wie die Landkarte einer unbekannten Gegend, hatte Tante Engrasi ihr einmal erklärt, als sie allein mit ihr war. Du musst dir ein Ziel wählen und dann eine Linie von dir bis dorthin ziehen. Wenn du dem Weg folgst, ohne dich ablenken zu lassen wie ein mystisches Rotkäppchen, dann liegt die Antwort irgendwann vor dir, eine Antwort allerdings, die nicht immer die Lösung des Rätsels ist. Manchmal werfen Antworten nur weitere Fragen auf.
»Wieso?«, hatte Amaia gefragt. »Wenn ich eine Frage stelle und eine Antwort erhalte, dann müsste das doch die Lösung sein.«
»Eigentlich schon. Das setzt aber voraus, dass du immer ganz genau weißt, welche Frage du stellen musst.«
Die Frage. Es musste immer eine Frage geben. Welchen Sinn hätte das Kartenlegen sonst? Man musste den Kanal öffnen, damit die Antworten kommen konnten, durchdringen, obwohl Millionen von Seelen schrien, heulten und logen. Du musst das Ziel vor Augen haben, dich an den Weg auf der Karte halten, dich nicht vom Wolf dazu verführen lassen, Blumen zu pflücken, denn sonst wird er früher am Ziel ankommen als du, dann wird dieser Ort nicht mehr der sein, den du angestrebt hast, dann wirst du mit einem Monster sprechen, das sich als deine Großmutter ausgibt und nur eines im Sinn hat: dich zu fressen. Und genau das wird der Wolf auch tun, wenn du vom Weg abkommst: Er wird deine Seele fressen. Wie oft hatte sie diese Warnungen in ihrer Kindheit gehört, die nun mit Tante Engrasis klarer Stimme in ihr ertönten: Tarotkarten sind wie eine Tür, du darfst sie nicht einfach so öffnen, und du darfst sie hinterher auch nicht offen lassen. Die Türen an sich sind keine Gefahr, aber das, was durch sie eintreten kann, sehr wohl. Vergiss also nie, die Tür zu schließen, wenn du die Karten befragt hast. Dir wird enthüllt werden, was du wissen musst, alles andere bleibt zu Recht im Dunkeln.
Die Tür hatte ihr eine Welt offenbart, von der sie immer gewusst hatte, dass es sie gab. Innerhalb weniger Monate hatte sie sich zu einer erfahrenen Reisenden entwickelt, hatte gelernt, auf der Karte des Unbekannten meisterhaft Linien zu ziehen, die Befragung zu lenken und unter dem wachsamen Blick Engrasis die Tür wieder zu schließen. Die Antworten waren immer klar und deutlich gewesen, leicht zu verstehen wie ein ins Ohr gesungenes Wiegenlied. Mit achtzehn aber, als sie in Pamplona studierte, trieb ihre Neugier sie dazu, Stunden vor den Karten zu verbringen. Sie befragte sie zu allem und jedem: zu dem Jungen, der ihr gefiel, zu den Ergebnissen ihrer Prüfungen, zu den Plänen ihrer Konkurrenten. Irgendwann wurden die Antworten verworren und widersprüchlich. Manchmal, wenn sie besonders dunkel ausfielen, befragte sie die Karten die ganze Nacht über, aber dadurch wurde es nur noch schlimmer. Und je schlimmer es wurde, desto mehr verstärkte sich ihr Gefühl, einer Fähigkeit beraubt worden zu sein, auf die sie ein natürliches Anrecht zu haben glaubte. Immer wieder versuchte sie es, bis sie schließlich die Tür offen ließ, die Karten nicht mehr einsammelte, sie einfach auf dem Bett liegen ließ. Eines Morgens, bevor sie zur Uni musste, legte sie wie so oft schnell noch die Karten. Doch diesmal erhielt sie eine Antwort, ohne eine Frage gestellt zu haben. Als sie die Karten gerade umdrehen wollte, ging deren geheimnisvolle Energie vom weichen Karton auf ihren Arm über und schüttelte ihn, als hätte sie einen Krampf. Sie drehte eine Karte nach der anderen um und zeichnete die Landkarte ihrer verzweifelten Seele. Auf die letzte Karte tippte sie mit dem Zeigefinger, ohne sie umzudrehen. Plötzlich spürte sie, wie die Kälte des Universums sie umhüllte. Sie begriff, dass der Wolf sie verführt und vom Weg abgebracht hatte, sie überholt hatte und vor ihr angekommen war, dass er sie dazu gebracht hatte, mit dem als Großmutter verkleideten Bösen zu sprechen.
Sie nahm das Telefon schon nach dem ersten Klingeln ab, und Tante Engrasi sprach nur aus, was sie schon wusste: Während sie am Wegrand Blumen gepflückt hatte, war ihr Vater gestorben. Seither hatte sie nie wieder die Karten gelegt.
Die Frage.
Mehrere Fragen dröhnten seit Tagen in ihrem Kopf: Wo ist
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