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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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sagten sie meistens nur grinsend: «Alles kaputt!» und suchten nicht weiter nach. Am schlimmsten waren die Nächte. Wir kamen immer erst um 1 Uhr zur Ruhe, weil jede Nacht die Wohnungen von Russen nach Frauen durchsucht wurden. Omi Paula und ich hatten mit allen Hausbewohnern verabredet, daß ich sie als meine Frau ausgeben wollte, und den beiden Jungen hatte ich eingeprägt, daß sie mich nur noch «Großvater» nennen durften.
    Es war mir klar, daß ich mein Überleben bis dahin zu einem guten Teil Omi Paulas Mithilfe zu danken hatte. Seitdem wir aber in ihr Wohnhaus zurückgekehrt waren, ergab es sich, daß ich ihre Hilfe vergelten konnte durch mein Vorhandensein und meine Verfassung. Ein gesunder, kräftiger Mann wäre sofort von den Russen verschleppt worden. Ich hatte mich seit Wochen nicht rasiert, und mein langer Bart und der verhungerte Zustand, gaben mir ein Aussehen, daß ich bei den Soldaten öfter den Ausdruck «stary invalid» (alter Invalide) hören konnte.
    Wenn wir nachts auf die Russen warteten, lagen Omi Paula und ich angekleidet im Bett, sie mit einem alten Tuch um den Kopf, das sie auch am Tage niemals ablegte, um ihr Gesicht darin zu verbergen. Wenn wir dann Russen kommen hörten, drückte sie sich im Bett so unsichtbar wie möglich an die Wand, während ich schnell aus dem Bett kroch und mich auf meinen Reiserollstuhl setzte. Kamen die Russen, dann stellte ich mich ihnen als Invalide in den Weg. Sie palaverten irgendwas und zogen los. Unter allen Bewohnern des Hauses war es vereinbart worden, daß, wenn irgendwo im Haus eine Frau zu schreien anfangen sollte, sofort alle andern Frauen aus aller Kraft in das Geschrei einstimmen sollten, weil dies das beste Mittel war, die Russen zu vertreiben.
    Eines Nachts kamen drei Russen in unser Zimmer. Sie hatten etwas besonderes an sich. Sie waren vollständig bewaffnet, mit umgehängten Gewehren.
    Ich empfing sie wie üblich. Der eine war ein kleiner, bösartig aussehender Kalmückentyp, der zweite ein großer, finsterer Russe, der dritte sah eigentlich ganz menschlich aus, war sogar freundlich. Die Kerle waren mir besonders unheimlich, da sie auch noch ein sonderbar ruhiges, verstohlenes Wesen an sich hatten. Sie wollten Salz von mir haben, damals eine große Seltenheit. Ich bestritt, daß wir welches besäßen, wobei ich mächtig Angst hatte, denn im Zimmer stand ein kleiner Steintopf voll Salz, das ein großer Schatz für uns war.
    Dann wollten sie, daß ich mit in die Küche käme, und ich war froh, sie erstmal aus dem Zimmer zu kriegen. Sie verlangten Kochtöpfe von mir,und als ich mich anstellte, als ob ich sie nicht verstände, nahmen sie zwei, das war ja selbstverständlich. Dann zogen sie los, und ich dachte natürlich, daß ich unsere unersetzlichen Kochtöpfe zum letzten Mal gesehen hätte, obgleich der eine mir verständlich zu machen suchte, daß er sie in einigen Stunden zurückbringen würde.
    Diese Kerle blieben drei Tage und Nächte im Haus. Sie hatten sich im Keller eingenistet, wo sie kochten und in unseren Töpfen Kaninchen brieten, was man im ganzen Hause riechen konnte. Einmal hatten sie in der Toten Weichsel mit Sprengstoff gefischt und brachten uns eine Schüssel voll kleiner Fische. Nach drei Tagen verschwanden sie und brachten mir sogar vorher die Töpfe zurück. Überhaupt hatten sie sich sehr zurückhaltend und vorsichtig benommen und niemandem etwas getan. Einige Tage später aber bekam Omi Paula sie zufällig auf der Straße vor dem Haus noch einmal zu sehen, als sie entwaffnet von russischen Soldaten abgeführt wurden. Also waren es wohl Ausreißer oder Deserteure gewesen.
    *
    Brigitte Kramer
Pillau – Kopenhagen
    Da lag ein Schiff, aber ein sehr kleines, auf dem nur wenige Personen Platz hatten. Meine Mutter war entsetzt, damit könnten wir niemals über die Ostsee, meinte sie. Darüber machte ich mir keine Gedanken. Die Matrosen würden doch wissen, ob das geht. Ich wollte jetzt weg. Irgendwohin, wo man wieder richtig leben konnte.
    Und dann geschah wieder etwas Schreckliches. Der Volkssturm wollte meinen Vater nicht auf das Schiff lassen. Meine Mutter und wir Kinder waren schon auf dem Schiff, als wir bemerkten, daß sie ihn daran hindern wollten. Menschen drängten nach, so daß wir auch nicht wieder runter konnten. Wir schrien und weinten, es konnte doch nicht sein, daß wir jetzt, da wir soweit alles überstanden hatten, noch getrennt werden sollten.
    Mein Vater sah uns auf dem Schiff. Er war bleich und konnte nicht

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