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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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lange und ist zwecklos.
    Der Rotarmist Pjotr Sebeljow
Berlin
    An seine Eltern
    Mamotschka, Papa, Schura, Taja!
    Heruntergekommene, abgerissene, oft völlig erschöpfte deutsche Soldaten und Offiziere legen überall auf den Straßen und Plätzen die Waffen nieder und ergeben sich scharenweise als Gefangene unseren Truppen. Auf vielen Häusern haben die Deutschen weiße Flaggen gehißt. Ich sehe gerade in dieser Minute, wie zwei Hitler-Offiziere mit ihrem gesenkten Banner und ohne Waffen vom Tiergarten-Park Richtung Brandenburger Tor gehen, in dessen Nähe ein Haufen deutscher Waffen liegt und sich deutsche Soldaten und Offiziere drängen.
    Viele von uns haben schon gelernt, Deutsch zu reden, und viele Deutsche können schon ein wenig Russisch zusammenstottern.
    Das allerletzte Paradox: Ich schreibe diesen Brief und sehe durch das Fenster, wie einer von unseren Soldaten und ein deutscher Soldat abwechselnd direkt aus der Flasche Schnaps trinken, gestikulieren und über irgend etwas reden. Erstaunlich! Ihr könnt euch diesen unseren Triumph kaum vorstellen, wie er sich jetzt in Berlin vollzieht.
    Übermittelt meinen Gruß und meine besten Wünsche an alle unsere Verwandten. Auf das baldige Wiedersehen, Euer Pjotr.
    Berlin, Straße Unter den Linden
    *
    Zentralfriedhof-Friedrichsfelde
Berlin
    Martha M. *1904
    Wilhelm straße
    Freitod (vergiftet)
    Willy M. *1901 Wihelmstraße
    Freitod (vergiftet)
    Brunhilde M. *1930 Wilhelmstraße
    Freitod (vergiftet)
    Helmut M. *1933 Wilhelmstraße
    Freitod (vergiftet)
    *
    Der Leutnant Hans Kranich 1919–1980
bei Jägernburg
    Was sagten wir denn zur Lage? – Nichts! Vielleicht haben die Offiziere bei der Artillerie über die Lage gesprochen, wir haben es nicht getan. Es gab sicher die wildesten Spekulationen: Frau Pätzold (Marie Pätzold) hatte beim ersten Treffen gemeint, wir ließen die Russen vielleicht absichtlich ins Reich. Sie war darüber erbost: jetzt lassen sie unsere Soldaten kämpfen und fallen, und dann kommt’s: das war nur ein Scherz – die Russen sind unsere Verbündeten.
    Von Offizieren konnte man öfter von geheimnisvollen Kontakten mit den Bandera-Partisanen hören, die in der Ukraine, unterstützt von deutschen Militärberatern, fabelhafte Erfolge über die Sowjets errangen. Ich hatte große Hoffnungen in die russischen (und tatarischen usw.) Verbände gesetzt, die an unserer Seite kämpfen wollten, aber von denen hörte man verdächtig wenig.
    Der Hauptmann Arthur Mrongovius 1905–1992
Linz
    In dem russischen General lernte ich einen höchst gebildeten, feinsinnigen Mann kennen, dessen Vertrauen ich bald gewann. In Gegenwart seiner Dolmetscherin, einer sehr einfühlsamen Frau deutsch-russischer Herkunft, hatte ich mit Michael Meandrow viele eingehende Gespräche über Gott und die Welt, wobei für mich kein Zweifel aufkam, daß er, wie so viele seiner Offiziere, nicht aus Opportunismus oder materiellen Gründen zu Wlassow gestoßen war, sondern aus der echten Überzeugung, daß die Stalin-Herrschaft dem russischen Volk zum Verderben gereiche. Seine ganze Hoffnung setzte er in jenen Tagen auf die Amerikaner, von denen er es sich als unmöglich vorstellen konnte, daßsie ihn und seine Truppe an die Sowjets ausliefern könnten, was dem entgegen dann allerdings ja auch mit der ganzen Wlassow-Armee gerade geschah, – und er gleich Wlassow sein Eintreten für eine Beseitigung der Stalin-Herrschaft durch Erhängung an der Kreml-Mauer auf dem Roten Platz in Moskau büßen mußte.
    Von großer Umsicht erwies sich dieser General auch, als eines Tages ein Transport mit KZ-Häftlingen ankam. Meandrow bewog die SS-Wachen, die in gestreifte Sträflingskleidung gehüllten Häftlinge freizulassen, die sich dann in Scharen über die ganze Umgebung verstreuten, was die Gefahr heraufbeschwor, daß diese halbverhungerten Menschen sich auf eigene Faust am Gut der ansässigen Bevölkerung vergehen könnten. Daß alles dann doch friedlich verlief, war auch nur dem Verhandlungsgeschick Meandrows zu verdanken, der die Dorfbewohner davon überzeugen konnte, daß es auch für sie das Beste sein würde, diese Menschen zunächst einmal aufzunehmen und zu versorgen. Ich stand übrigens hier das erste Mal Auge in Auge dem gegenüber, was ich bisher nur vom Hörensagen kannte, und dem ich daher auch keinen Glauben geschenkt hatte: dem grenzenlosen Elend der KZ-Schurkerei. Aber Hitler, als Letztverantwortlichen nahm ich immer noch davon aus.
    Adolf Hitler

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