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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Freitag, den 27. April, um 12 Uhr mittags, von aller SS geräumt sein müsse, die weisse Flagge sollte überall wehen. – Die weisse Flagge wehte überall, aber die SS hatte ihr Wort nicht gehalten, sie war noch da und schoss, trotz weisser Flagge. – Daraufhin und wegen der Leichen, die man ausserhalb fand, soll der Befehl gegeben worden sein, jeden SS- Mann, der im Lagerbereich gefunden würde, niederzuschiessen, ganz gleich, ob er sich ergebe oder nicht. – Das gibt natürlich dem Ganzen ein anderes Gesicht. –
    Überall im Lager wehen jetzt von den Blocks die Fahnen in den Farben aller Länder, die hier vertreten sind. – Wo sind sie nur hergekommen? Weisser Stoff, – gut: Leintücher, Bettlaken, – aber die anderen Farben? Ob die Kameraden sie in den Magazinen der SS fanden? –
    Das Strassenbild sah ich durch den Bretterzaun. – Dachau, wie immer, viele Häftlinge gehen auf der Lagerstrasse, aber sie gehen, sie schleichen nicht so in ihrem Gang, sie gehen freier, unbeschwerter. – Auf dem Appellplatz marschierte irgendeine Gruppe auf, – aber es ist kein Marschieren wie einst, alles ist gelöster. – Die bunten Fahnen wehen, sonst ist es wie immer und ... doch nicht. – Es liegt etwas in der Luft, – etwas ganz Eigenes liegt über dem allem, fast erinnert mich die ganze Atmosphäre an die eines stilleren Jahrmarktes.
    Aber was ich nicht sehen kann, was ich nur erfahre: überall liegen noch die Leichen der SS, – man hat sie nicht weggeräumt. – Warum nicht? – Es macht mich traurig, und ich denke an die geraubten Schuhe, Uhren und dergleichen. – Aber dann denke ich, dass nach all dem Furchtbaren, das die meisten von uns erlebten, nach all dem Teuflischen und Barbarischen, es wiederum doch eigentlich ein gutes Zeichen für unsere Kameraden ist, dass sich keiner irgendwie an den Leichen vergreift, dass man sie ruhig liegen lässt.
    Man könnte sich ja auch denken, dass die Menschen voll Wut nun die Leichen treten oder sonstwie noch ihre Wut an ihnen auslassen würden. –Aber es ist beglückend, zu denken, dass es scheinbar doch niemanden unter uns gibt, der solche Gefühle als Menschenbestie entwickelt und ausführt. –
    Der Kanonendonner ist noch immer zu hören. – München soll noch nicht gefallen sein, – es ist so, wie ich es dachte. –
    Es kommen amerikanische Soldaten ins Lager, uns anzusehen. – Man führte eine Gruppe von ihnen auf einen Block. – Im Waschraum lagen 50 Leichen von Gestorbenen, Verhungerten, Erschöpften. – Einer der Offiziere begann zu weinen, als er das sah. – Seltsam, zu denken, dass ein Mann, der aus der Schlacht kommt, dauernd Tote sieht, ein Offizier, mitten im Kriege, beim Anblick unserer Toten weint. – Aber ich kenne das, – ich weiss, wie unsere Toten aussehen, so erschütternd, dass selbst die Tränen eines Kriegers verständlich sind. –
    Anscheinend kam heute auch eine Abteilung Filmreportage und machte Aufnahmen der jubelnden Häftlinge und der toten SS, des Lagers und so weiter. – Natürlich sind diese Aufnahmen echt, aber am echtesten wären sie wohl in dem Augenblicke der Befreiung gewesen. – Aber die Aufnahmen, die die Soldaten machten, gleich im ersten Augenblick, diese Aufnahmen möchte ich sehen, – wie echt müssen die sein! – [...]
    Man hat ein internationales Häftlings-Komitee gegründet. –
    Heute sind auch schon die ersten Anzeigen erstattet worden. – Man hat ehemalige SS-Angehörige anderer Staaten ermittelt, die als Häftlinge unter uns lebten. – Die Häftlinge selbst, unter sich, fanden das heraus. – Die Beschuldigten wurden abgeführt, den Alliierten übergeben. – Sie sind im Bunker und sollen in ihren Ländern vor ein Gericht gestellt werden, – Ex-Kameraden. – Man hat auch ehemalige Capos, Blockpersonal und andere vorgeschleppt, solche, die viel auf dem Gewissen haben. – Gruppen von vielen Häftlingen taten das, die alle die Schandtaten der Abgeführten bezeugen konnten. – Man sagt, man hat sie gleich erschossen, – ich kann nicht nachprüfen, ob das mit dem Erschiessen stimmt. – Es sollen schon viele sein. – Eine grosse Aufräumungsaktion beginnt. – Es muss jetzt schrecklich sein, ein schlechtes Gewissen zu haben, auch für einen Häftling und besonders für ihn. – Welch bittere Frucht wird ihnen der Tod sein. [...]
    Auf vielen Blocks sind schon Radios. – Die Amerikaner bringen sie uns, sie nehmen sie, wo sie sie im SS-Bereich finden. –
    Das Essen ... – Ja, das hätte ich fast

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