Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
tragisch erleben, und in Wirklichkeit fehlt es nicht an höchst nüchternen oder auch grotesken Begebenheiten.
Von der großen Politik wissen wir fast nichts, Zeitungen kommen schon lange nicht mehr – Radios sind abgegeben, wir sind auf widersprechende Gerüchte angewiesen. Hitler soll in Berlin noch immer mitkämpfen. Himmler soll mit dem Vorsitzenden des intern. Roten Kreuzes Bernadotte verhandeln.
Adolf Hitler 1889–1945
Berlin/Führerbunker
Politisches Testament
Viele tapferste Männer und Frauen haben sich entschlossen, ihr Leben bis zuletzt an das meine zu binden. Ich habe sie gebeten und ihnen endlich befohlen, dies nicht zu tun, sondern am weiteren Kampf der Nation teilzunehmen. Die Führer der Armeen, der Marine und der Luftwaffe bitte ich, mit äussersten Mitteln den Widerstandsgeist unserer Soldaten im nationalsozialistischen Sinne zu verstärken unter dem besonderen Hinweis darauf, dass auch ich selbst, als der Gründer und Schöpfer dieser Bewegung, den Tod dem feigen Absetzen oder gar einer Kapitulation vorgezogen habe.
*
Der sowjetische Hauptmann Alexei Kalinin *1911
Berlin
An seine Frau
Ich grüße Euch alle aus Berlin!
Ja, Murotschka, wir sind schon in Berlin, wir kämpfen in den Vororten von Berlin und werden den Fritzen die Stadt bald wegnehmen. Und erst hier, Murotschka, haben wir das Leben der Deutschen in seiner ganzen Fülle zu Gesicht bekommen. Alle sind sie sich tödlich ähnlich, sie sind dünn und bleich, natürlich nicht reich, die Arbeiter leiden großen Hunger. Wir gehen irgendwo rein – da fürchten sie sich, sie zittern, aber nach zehn Minuten sehen sie, daß wir keine Untiere sind, und dann bitten sie, ganz ohne sich zu genieren, um Brot oder etwas zu essen, angezogensind sie gut, aber sie stehen auf der Straße und bitten unsere Soldaten um Brot (außen Seide, innen Mist, wie das Volk bei uns sagt). Sobald unsere Küche anfängt, die Soldaten zu verpflegen, kommt die deutsche Zivilbevölkerung, Männer wie Frauen, mit Näpfen angerannt.
Murotschka, Du fragst in Deinem Brief, warum Du keine Päckchen bekommst – das weiß ich auch nicht, Murotschka, ich habe Euch drei Stück geschickt.
Morgen ist der 1. Mai, und ich schreibe jetzt diesen Brief an Dich zu Ende, und unterdessen donnern bei mir die Rohre, sie machen es den Fritzen gut heiß, die Jungs tun einem geradezu leid, und zum Schlafen ist keine Zeit, wir dreschen und dreschen drauflos, zum Glück mangelt es uns nicht an Gurken.
Also, einstweilen auf Wiedersehen, meine Liebe!
Ich küsse Dich ganz herzlich,
Dein Ljoscha
Der sowjetische Offizier Akim Popowitschenko
(Österreich)
An seine Frau
Liebe Werotschka!
Ich gratuliere Dir zum 1. Mai. Möge dies der letzte Maifeiertag sein, denn wir nicht gemeinsam begehen können.
Heute ist es mir endlich gelungen, an Deine Adresse zwei Pakete mit wertvollen Dingen zu schicken. Zwei bis drei neue stehen schon bereit, sie sind nicht weniger wertvoll als die vorigen, jetzt habe ich noch genug für ein weiteres mit Seide und Wolle. In dem Paket, das wir auf Jascha Bibergals Namen an Deine Adresse senden, liegt obenauf schwarzer Wollstoff, der gehört ganz mir, außerdem sind in dem Paket zwei Stücke dunkelblaues Tuch, ein Damenstoff, das eine gehört mir, das andere Jascha, und alles andere gehört ihm. Im Paket auf meinen Namen gehört natürlich alles mir. Ich zähle jetzt nicht auf, was alles drin ist, weil da so viele verschiedene Seiden- und Wollstoffe drin sind, ich weiß gar nicht, wie viele Meter von was, und über die Farben will ich mir gar nicht den Kopf zerbrechen. Wenn alles ankommt, siehst Du es sowieso, wenn nicht, ist das Aufzählen ohnehin umsonst.
Seidenstrümpfe für Dich sind dabei, ich glaube, so etwa acht Paar, alle neu natürlich, dann zwei seidene Damenblusen, eine ist hellblau und die andere rosa. Wenn insgesamt alles bei Dir ankäme, was ich Dir geschickt habe und was ich Dir noch zu schicken hoffe, dann wärest Du die reichste Frau in Smela. Das meine ich ganz ernst. Es wäre ärgerlich, wenn ich nicht Dich, sondern irgendwen sonst fürs Leben reich machensollte. Von solchen Stoffen, wie ich sie Dir schicke, hast Du ganz gewiß im ganzen Leben nicht geträumt. Ich bin sicher, daß wenigstens einiges ankommen wird, und wenn gar nichts ankommt, dann – komme ich selbst!
Auf Wiedersehen. Ich umarme und küsse Dich herzlich.
Dein Kima.
P.S. Schreib Wadja selbst nach Kiew oder über das Bezirkswehrkommando. Von der Armee aus zu schreiben dauert
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