Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
wütend, dann schadenfroh!
Die Russen betraten unser Haus, bzw. den Keller. Vier Mann. Einer hatte wohl das Sagen, denn er gab auf Russisch den anderen die Befehle. Man stelle sich den Keller so vor: wie ein 10 m langer Korridor, 11/2m breit. Davon gingen die einzelnen Keller jeder Wohnung ab, ca. 2m x 4m. Alles voll Koffer, Betten, Gepäck aller Art, usw. Am Ende des Korridors war ein größerer Raum. In dem lag Stroh, auf dem lagen die Verwundeten. Deutsche und Russen, mehr oder weniger schwer verwundet. Dann hieß es: alles raustreten (auf den «Korridor»), keiner sagte ein Wort, allen war das Herz in die Hose gerutscht. Der das Sagen hatte, war ein großer Kerl, Mongole! Er befahl wohl, alle Keller zu durchsuchen, es wurde in jedes Bett, in jede Matratze und jedes Gepäckstück mit dem Bajonett gestochen. Das gab vielleicht ein Durcheinander! Die Federn flogen, und alles fiel kreuz und quer. Die Russen stanken nach Schnaps. Einer der fiesen Kerle hob mir mit einem Finger unters Kinn das Gesicht hoch. Dabei fiel ihm seine Schnapsflasche auf den Boden. Kaputt! Ich dachte, nun werde ich sicher erschossen! Wurde aber nicht.
Als sie aus unserem Keller raus waren, unter uns nur betretenes Schweigen, auch unser «Untergrundkämpfer» sagte nichts mehr.
Im Nebenhaus hatten die Russen ein Tabaklager aufgestöbert, aber keine Zeit, sich weiter darum zu kümmern, denn für sie ging der Nahkampf ja weiter.Am Zoobunker wurde noch Widerstand geleistet. Ausgerechnet in der Gegend, wo sich die allerletzten Kampfhandlungen abspielten, mußte ich Zuflucht suchen! Aber das Tabaklager erregte unsere Aufmerksamkeit. Es war nur über den Hof. So plünderten wir den Laden, wir hatten ja nichts mehr zu essen. Also seit dem Tage rauche, bzw. qualme ich.
Die Künstlerin Eva Richter-Fritzsche 1908–1986
Berlin-Pankow
Es knallt und dröhnt weiter um uns. Die Sonne scheint schweflig, stets von Branddunst umtost. Zwischendurch aprilmäßige Regen- und Hagelschauer, dunkle Wolkenballen wechseln ab mit unsteten Lichtblicken. Aber selbst das Wetter hat nichts Vertrautes mehr.
Vergangenen Mittwoch – also nach den Toten vom Dienstag – holte man ganze Hauseinwohnerschaften aus der Elsa-Brandström-Straße heraus. Sie mußten von der Kirche aus – Männer, Frauen und Kinder – zur Begleitung eines russischen Panzers bleiben, der von dort aus gegen den Widerstandsherd im Gartenkoloniegelände vorging. Es gab Tote und Verletzte unter dem unglückseligen zivilen Schlachtvieh.
*
Der Oberleutnant Fritz Radloff 1916–1989
Berlin
Der Reichstag bis unter das Dach mit restlos betrunkenen Russen angefüllt. Wo zehn zusammengeschossen sind, kommen zwanzig neue herein! Es ist entsetzlich. Handgranaten und Pistolenschüsse kommen von oben herab, in den unterirdischen Gängen und Gewölben erhallt es von Panzerfäusten und Gewehrschüssen, zum Schluß schießt jeder auf jeden. Am Süd-Eingang ist plötzlich Tumult, Geschrei, Handgemenge! Die Russen versuchen Gewalteinbruch! Verstärkung muß dorthin. Alles, was Beine hat, dorthin. In 20 Minuten ist auch dort die Lage bereinigt. Gegen 2 Uhr kommt wild schreiend eine Gestalt aus Richtung Krolloper mit erhobenen Händen: «Nicht schießen, nicht schießen, hier deutscher Arzt!» Was hat das zu bedeuten?
Es ist ein deutscher Oberstabsarzt, der von den Russen mißbraucht wird, um den Reichstag zur Übergabe zu zwingen. Ein Ultimatum wird gestellt für morgen 10 Uhr, andernfalls werde das gesamte Gebäude komplett gesprengt.
Der Rotarmist Ilja Kritschewski *1907
Berlin
Die Kämpfe in Berlin näherten sich dem Ende. Unsere Armee hatte sich dicht an den Reichstag herangearbeitet. Die freudige Spannung erreichte den Gipfel, jeder wußte, die Einnahme dieser letzten Bastion der Faschisten bedeutete den endgültigen Sieg über das hitlerfaschistische Deutschland.
Aber es war nicht einfach, den Reichstag zu nehmen. Die Reste der einst furchterweckenden faschistischen Armee wehrten sich verzweifelt. Das Gebäude war in eine Festung verwandelt. Und dennoch – schließlich war es vollbracht. Die Kunde von der siegreichen Erstürmung des Reichstags verbreitete sich blitzschnell in der ganzen Armee. Alle wollten wissen, wer als erster in den Reichstag eingedrungen war, wer auf ihm das Siegesbanner aufgepflanzt hatte.
Der sowjetische Oberstleutnant Klimenko
Berlin
Als das 79. Schützenkorps den Reichstag erobert hatte, kam meine Abteilung im Gebäude des Gefängnisses Plötzensee unter; dorthin wurden die
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