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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Läden geht mit. Es ist kein Halten mehr.
    Bei Hefter am Breitenbachplatz waren Russen, riefen Frau E. hinein, der eine nahm sie gleich mit in den Keller und schenkte ihr dann zum Dank großzügig den ganzen Laden. Allzuviel war nicht mehr drin, aber sie kam angejagt: «Kinder, einer setzt mir Wasser aufs Feuer, alle anderen erst mal mitkommen!» – Wir wußten gar nicht, was los war, dann stelltesich’s heraus: Wir schleppten eine große Rinderkeule ab, eine Riesenschüssel Marmelade, diverse Nährmittel. Endlich wird beschlossen, Gemeinschaftsküche zu machen. Frau P. wird kochen, jeder gibt zum Fleisch, was er hat, Nudeln, Fett usw. Die Keule ergibt zwei herrliche Mahlzeiten. Riesenknochen zum Auskochen. Wir konnten sie nur zu zweit tragen. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich einmal mit einer Rinderkeule auf der Schulter vom Breitenbach- zum Rüdesheimer Platz marschieren würde, die nichts gekostet hat, bloß die dreimalige Bereitschaft einer Frau zum Beischlaf. [...]
    Neue Russen-Feldlager überall um uns her. Schweine werden im Laubenland geschlachtet, Wagen auf Wagen sausen vorbei, soviel Autohupen und Pferdegetrappel hat Wilmersdorf nie gehört. Lange Kolonnen von Flüchtlingen dazwischen, mit Wägelchen voll Habe oder ein paar Bündeln.
    Friederike Grensemann *1924
Berlin-Mitte
    Am 30. April starb ein Hausbewohner. Ein alter Herr. Er wurde in einen Teppich gewickelt, die Pflastersteine auf dem Hof gehoben, eine Kuhle geschaufelt und hinein mit dem armen Kerl. Er hatte es überstanden! Die Toiletten waren bis zum Hals voll, die Spülung ging ja auch nicht. Das Wasser ging langsam zu Ende. Gegenüber auf der anderen Straßenseite von uns, sollte noch eine Pumpe gehen. Eva und ich wollten versuchen, frisches Wasser zu holen. Wir versuchten mit einem Eimer über den Ku-Damm zu robben, kamen aber nicht weit. Die russischen Panzer kamen. Als ich einmal vor dem Kellereingang stand, bekam ich noch einen Granatsplitter ab, er sauste am rechten Unterarm vorbei. Die Narbe konnte man noch zehn Jahre später sehen.
    Im Keller lagen nun viele stöhnende Verwundete, und es war kaum auszuhalten. Die berühmten Stalinorgeln heulten über Berlin, alles brannte, qualmte und es krachte. Die Fußtruppen der Russen kamen von Haus zu Haus näher. Es konnte sich nur noch um Stunden handeln, dann hatten sie uns. Es hieß: jetzt sind sie in Nr. 217, jetzt 215, Nr. 213 und dann. Komisch, das alles ist über 31 Jahre her, und ich kann es schreiben, als wäre es gestern gewesen. Damals war ich gerade 20 Jahre alt, heute schon 52 Jahre, und ich sehe es noch immer mit den gleichen Augen an.
    Kurz bevor die Russen in unser Haus, Kurfürstendamm 211, kamen, sagte der Oberstabsarzt zu uns: «Ihr braucht keine Angst zu haben, ich gehöre der ‹Untergrundbewegung› an und habe Ausweise, uns wird nichts passieren!»
    Die Panzerfäuste auf dem Hof waren schon abtransportiert oder verschossen,so sagte der Herr Doktor: «Jeder, der eine Waffe besitzt, gibt sie entweder mir oder verläßt das Haus sofort !» Ich hatte doch meine Pistole in der Manteltasche, und was sollte ich nun machen? Ich hatte Vatsch doch versprochen, mich zu erschießen, wenn die Russen kommen! Sollte ich es jetzt tun? Ich bekam Angst vor meiner eigenen Courage! Sollte ich das Haus verlassen? Unmöglich, dann konnte ich mich auch erschießen. Mich zu entscheiden, war sehr schwer! Ich zögerte. Die Pistole in meiner Hand in der Tasche war drohend und verlockend. Ich verkrümelte mich in eine Ecke, nahm die Pistole, noch gesichert, in die Hand und hielt den Lauf in den Hals! Mit Wasser füllen, ist noch wirksamer! hatte mir jemand gesagt. Die Minuten, die damals über mein Leben oder meinen Tod entscheiden sollten, habe ich auch nie mehr vergessen. Ich starrte auf den Hof, dort standen die großen Abfallkübel. Man hatte einen umgekehrt, um unten drin die Waffen zu legen, die mehrere besaßen. Mir flitzte es durch den Kopf: Vielleicht kriegen mich die Russen ja gar nicht, vielleicht sind die gar nicht so, wie man es uns beigebracht hat – die Untermenschen? Die Minuten rasten vorbei, was sollte ich machen?
    Ich habe mich für das Leben entschieden. Ich lief schnell nach draußen und warf meine Pistole in den Abfallkübel.
    Und nun weiter! Die Russen kamen in unser Haus! Der Untergrundarzt war der erste, der den Russen seinen Ledermantel abgeben mußte und seine Frau ihren Nerzmantel! Die Russen konnten wohl seine Ausweise nicht lesen. Wir anderen waren erst

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