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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Krieges eingetreten.
    Die erste: Eroberung u. Sieg
    die zweite: Niederlage u. Rückzug
    die dritte: Besetzung und Beginn der Auflösung.
    Die vierte? –
    Der Leidensweg ist lang –
    Elisabeth Kraushaar-Baldauf *1915
Leipzig
    Der heutige Tag lief ab wie ein überdrehter Film. Die Sieger haben das Ausweichlager einer Leipziger Spirituosenfirma gefunden. Das Resultat ist ein grandioses Besäufnis. Ich würde ihnen den Siegesrausch gönnen, wenn sie dadurch nicht so gefährlich würden.
    Heute nachmittag kam ich durch einen Sieger in arge Bedrängnis. Der kleine Prietz holte mich ganz aufgeregt ins Gutsbüro. Dort, sagte er, sei ein Ami, der die Schubladen durcheinanderwerfe, die kleine Gutskasse habe er bereits genommen, und außerdem fuchtele er mit der Pistole herum.
    Als der Amerikaner mich sah, sagte er: «O, what a nice girl – come on, I am victor and I have a pistol!» Auf meine englische Bemerkung, er sei ein guter Junge, aber betrunken, stutzte er, faßte mich dann aber um meine Taille und sagte: «Come on, let’s go.» Für solche Fälle hatte ich mir einen Plan gemacht. Ich ging mit den Siegern immer, unter dem Vorwand, ich hätte noch etwas zu tun, in den Keller, wo noch der tote deutsche Soldat lag. Das hatte bisher immer eine heilsame Ernüchterung bewirkt. So versuchte ich es auch diesmal. Wir gingen über den Hof, als es diesen Sieger plötzlich überkam. Er schrie mich an, ich sei jetzt sein, und er habe eine Pistole. In meiner Verzweiflung zeigte ich ihm meinen Trauring, was ihn wütend machte. Mein Mann sei ein Saunazi, sagte er, und er werde es mir schon zeigen. Ich reagierte rein instinktiv mit einem Ablenkungsmanöver. Ich fragte ihn, wie es seinem Präsidenten gehe (Roosevelt, das hatte ich vom Luxemburger Sender gehört, war am 12. April gestorben). Es wirkte wie ein Keulenschlag! Er setzte sich mitten im Hof auf den Boden und schluchzte: «My President is dead!» Ein weinender Krieger ist nicht mehr gefährlich. Der tote Präsident hatte mich gerettet.
    Am Abend kamen erneut die beiden Amerikaner der ersten Nacht. Sie hatten nach mir verlangt, standen dann aber nur so herum, und ich wußte nicht, was sie wollten. Nach einiger Zeit begann der eine von ihnen, mir seine Heimat zu schildern. Er stamme von einer Farm, sagte er, und deshalb gefalle ihm die Atmosphäre hier auf dem Gut. Er hatte einfach Heimweh. Weil die beiden nüchtern und sehr anständig waren, kam mir der Gedanke, sie für die Nacht um Schutz zu bitten. Im Ort ging nämlich das Gerücht, daß die Sieger in der kommenden Nacht mit den Frauen «victory» feiern wollten – wie, konnte man sich denken. Ich fragte die beiden, ob sie auch davon gehört hätten, und ob sie nicht einen Offizier wüßten, der zu unserem Schutz im Gut übernachten würde. Da lächelten sie, griffen in die Hosentaschen und zeigten mir auf der flachen Hand Abzeichen. Als ich erstaunt die mir unbekannten Spangen betrachtete, sagten sie, sie seien Offiziere, und ich solle unbesorgt sein.
    Heute wurde ich in die Stallungen gerufen. Dort sei, so sagte man mir, ein amerikanischer Offizier, der mit einer Maschinenpistole die Schweine totschieße. Als ich in den Schweinestall kam, stand der Mann mit dem Rücken zur Tür mitten unter den toten Säuen. Ob dieses Anblickes ziemlich erregt, stellte ich ihn auf englisch zur Rede. Er drehte sich um, musterte mich von Kopf bis Fuß und sagte dann in fließendem Deutsch: «Gehen Sie, ehe ich mich vergesse, Sie haben in Polen mehr als Schweine getötet!» Das reichte mir, um blitzschnell zu verschwinden.
    Die Schweine wurden dann später auf einem Lastwagen abtransportiert. Der Mann, der die Requirierung vorgenommen hatte, war ein Pole in amerikanischer Uniform.
    Die Fotografin
Margaret Bourke-White 1904–1971
Leipzig
    Am frühen Morgen des 20. April, eines Freitags, stürzte mein LIFE-Kollege Bill Walton zu mir herein, die Haare standen ihm vor Aufregung wie kleine feuerrote Wirbel vom Kopf.
    «Fahren Sie schnell zum Rathaus, ehe sie es aufräumen», sagte er. «Da drin sieht es aus wie in Madame Tussauds Wachskabinett!»
    Wir rasten im Jeep über die Zeppelinbrücke und fuhren vor dem Leipziger Rathaus vor. Tiefe Löcher vom Artillerie-Beschuß hatten die Silhouette des ehemals schönen, alten Rathauses zerrissen.
    Bill und ich rannten drei Stockwerke über Steintreppen hin auf, kletterten über abgestürzte Büsten Friedrichs des Großen und anderer, zu Fall gekommener Preußen, und stürzten durch eine gegen Lärm

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