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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Männer, etwa 18 Jahre alt, in die Kontrolle und hatten keine richtigen Ausweispapiere. Diese Armen, sie wurden am darauffolgenden Tage vor das zusammengetretene Kriegsgericht gestellt, wegen Desertation schuldig befunden, zum Tode verurteilt und am anderen Morgen, in aller Frühe in den Singer-Nähmaschinenwerken, an einer hohen Mauer vor die Gewehre gestellt und erschossen. Ich sah sie selbst kurz darauf, tot, in ihrem Blut liegend.
    Der Oberleutnant
Fritz Radloff 1916–1989
Blumeshof bei Berlin
    Täglich vernehmen wir im Wehrmachtsbericht, die Ostfront steht im harten Ringen. In Berlin sind die Panzersperren gebaut. Man jagt nur von einer Besprechung zur anderen, von einem Planspiel zum anderen, Waffen, Waffen, Waffen fehlen uns! Was soll ich mit französischen Gewehren anfangen? Was soll ich mit den Luftwaffenhelfern, was sollen die Mädchen noch bei uns? Und niemand wagt eine Entscheidung zu treffen. Der Volkssturm rückt nach dem Stellungsbau, und wer ist sonst noch da? Nur wir! Also werden wir auf uns allein gestellt sein. «Jungs, wir sind allein!» Am Vorabend des Führers Geburtstages hören wir die Rede des Propagandaministers. Wir hören den Aufruf des Führers. «Berlin bleibt deutsch!» Also, es muß sein, das ist unsere Empfindung. So fügt sich ein jeder in das Unvermeidliche, der Tanz beginnt.
    Dieter Wellershoff *1925
Chorin
    Inzwischen sickerte die Nachricht durch, daß die Rote Armee nördlich und südlich von uns die Oder überschritten hatte und sich in einer Zangenbewegung auf Berlin zu bewegte. Wir waren also umgangen worden, und wahrscheinlich war uns der Rückzug längst abgeschnitten. Ich wurde als Melder zum Unterstand des Regimentskommandeurs abkommandiert. Es war ein sympathischer, ruhiger, besorgt aussehender Mann, im Zivilberuf Studienrat, der mich nach mir ausfragte und sich längere Zeit sehr väterlich mit mir unterhielt. Es war der 20. April. Der Gefechtslärm an der Oder flaute für Stunden ab und begann dann wieder. Im Radio hielt Goebbels aus dem fast eingeschlossenen Berlin einewahnsinnige Rede zu Hitlers Geburtstag. Der Führer sei in Berlin und leite persönlich die Verteidigung der Reichshauptstadt, an deren Mauern die russische Dampfwalze zerschellen würde. «Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch», schrie der oberste Märchenerzähler, der bei niemandem mehr Glauben fand.
    Die Ukrainerinnen waren plötzlich verschwunden. Statt dessen kam ein verirrter Treck von deutschen Dorfbewohnern aus der Oderniederung durch den Wald, die vor Erschöpfung kaum noch weiter konnten. Noch immer geschah nichts. Wahrscheinlich war die Verbindung zu den höheren Armeestäben abgerissen und wir lebten hier im Wald in einem toten Winkel der Schlacht.
    *
    Neue Zürcher Zeitung
    Als die amerikanischen Infanteristen in Leipzig einzogen, wurden sie von der Bevölkerung mit Jubel und Begeisterung begrüßt. Stellenweise wurden die Truppen mit Blumen überschüttet. Die Begeisterung der Bevölkerung scheint sich jedoch weniger auf die Tatsache der Befreiung vom Nazijoch zu gründen als vielmehr auf den Umstand, daß es die Amerikaner und nicht die Russen waren, die Leipzig nahmen. Die Szenen erinnerten nach der Aussage eines Stabsoffiziers aus dem Hauptquartier General Hodges’ an die Tage der Befreiung der Normandie und der Bretagne.
    Mary Wigman 1886–1973
Leipzig
    Zerschlagen an Leib und Seele.
    Ein qualvoller Tag. –
    Die – ausgebombten – Weiber im Souterrain soffen mit Franzosen und U.S.A. Soldaten.– Die ganze Nacht ging das Gejohle, und Gesinge, das ekelhafte Duett von Männer- und Frauenstimmen, die jede Selbstkontrolle verloren hatten. Ich habe mich so geschämt für diese Frauenzimmer, die es nicht verdienen als «deutsche Frauen» angesehen zu werden. O, ich habe Verständnis für das ausgehungerte Geschlecht das – ob Freund oder Feind – aufeinander prallt in seiner Not und Vereinsamung. Aber es gibt noch so etwas wie eine letzte Würde, selbst in der tiefsten Demütigung. Nirgendwo ist mir die Geilheit so nackt, so schamlos begegnet wie in den Vereinigten Staaten.
    Aber was würden diese amerikanischen Jungens sagen, wenn sie es erleben müssten, dass ihre eigenen Frauen und Mädchen sich fremdenSoldaten, den Besiegern ihres heimatlichen Bodens so hemmungslos an den Hals werfen?/
    Um 10 erschienen zwei U.S.A. Soldaten. Haussuchung. Nach Waffen. Zwei Fotoapparate nahmen sie mit.
    In der Stadt wird geplündert. Die Deutschen tun das! Wir sind in die 3. Phase des

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