Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
abgedichtete, zweiflügelige Polstertür. Wir standen in einem überladen eingerichtetenBüro, mit sentimentalen Landschaftsbildern an den Wänden und schweren Möbeln, wie sie die Deutschen im neunzehnten Jahrhundert für luxuriös hielten. Auf den massiven Ledermöbeln lehnte eine Familiengruppe, die so intim und so lebendig wirkte, daß man kaum glauben konnte, daß diese Menschen nicht mehr am Leben waren. Am Schreibtisch saß Dr. Kurt Lisso, den Kopf in die Hände gelegt, als ob er ausruhen wollte. Auf dem Sofa lag seine Tochter und in dem dick gepolsterten Armsessel saß seine Frau. Die Ausweise und Dokumente der ganzen Familie waren ordentlich auf dem Schreibtisch ausgebreitet, daneben stand die Flasche Pyrimal, mit dem sie sich offenbar umgebracht hatten. Dr. Lisso war Stadtkämmerer und Schatzmeister der Stadt Leipzig gewesen, Parteifunktionär mit einer jener niedrigen Mitgliedsnummern, die besagte, daß er zu den Getreuen der ersten Stunde gehört hatte. In einem Nachbarzimmer saßen ebenso lebensecht Alfred Freiberg, der Oberbürgermeister, mit seiner Frau und seiner hübschen Tochter Magdalena im Kreis. Auch andere Zimmer in der Nähe bargen solch totenstille und schweigsame Gestalten. Am auffallendsten war der Befehlshaber des Volkssturms in seiner schönen Uniform und mit einem Hitlerbild neben sich. [...]
    Am Nachmittag desselben Tages, an dem Bill Walton und ich das Rathaus aufgesucht hatten, waren wir auf der Suche nach einer Fabrik für Flugzeug-Ersatzteile, die von der 8. Air Force Division bombardiert worden war, auch an den Rand von Leipzig gefahren. [...] Als wir auf der Suche nach der Fabrik eine schmale Landstraße zwischen gepflügten Äckern entlangfuhren, drang ein merkwürdiger Geruch zu uns, ganz anders als alles in unserer bisherigen Erfahrung. Wir folgten dem Geruch und sahen schließlich jenseits einer kleinen Wiese einen etwa drei Meter hohen Stacheldrahtzaun, der seltsamerweise um einen leeren Platz gezogen schien. Wir parkten den Jeep, liefen durch ein kleines Tor hinein und standen vor einem Leichenfeld.
    Niemand war da, das heißt, kein lebendiger Mensch. Über dem Flecken mit all den Schädeln und verkohlten Rippenknochen wehte an einem hohen, dünnen Mast eine groteske, weiße Fahne. Es war nur zu deutlich, daß die Menschen, die es hier vor kurzem noch gegeben hatte, nicht freiwillig in den Tod gegangen waren. In der meterbreiten Einzäunung von eng geflochtenem Stacheldraht hingen geschwärzte menschliche Gestalten, ihre verzweifelte Haltung sprach noch von ihrer letzten Anstrengung, ins Freie durchzubrechen. Bei diesem Fluchtversuch hatten sie sich in den Stacheldraht-Rollen verfangen und waren als lebende Fackeln verbrannt.
    Außer dem unwirklichen Fahnenmast in einer Ecke stand nichts mehr in der Asche. Überall auf dem gespenstisch gefleckten Teppich, der die Fläche bedeckte, waren Dutzende gleichförmiger kleiner Näpfe und dazwischen immer wieder Löffel verstreut.
    *
    Der General Karl Koller 1898–1951
Wildpark-Werder /OKL
    Um 2.20 Uhr morgens passiert Göring die Wache, sein Wagen lenkt in den großen Hof ein, die Hupe dröhnt. Gleich darauf bestätigt mir Brauchitsch fernmündlich die Ankunft von ihm. (Ich erfahre später durch Oberstabsarzt Dr. Ondarza, der Göring auf der Fahrt vom Führerbunker durch Berlin begleitete, daß sie sich wegen der Luftangriffe geraume Zeit in verschiedenen öffentlichen Berliner Luftschutzbunkern aufgehalten haben. Dabei sei Göring von der Bevölkerung nicht unfreundlich aufgenommen worden, er selbst habe sich sehr leutselig gegeben und Witze gemacht, vor allem auch über seinen berüchtigten Ausspruch, er «wolle Maier heißen, wenn ...» Man sandte sogar Boten aus den Nebenbunkern, um ihn auch dorthin zu bitten. Er ging auch hin und war bei den Berlinern noch durchaus populär.)
    Ich bestelle Brauchitsch, daß ich Göring bei seiner Abfahrt vor meinem Dienstgebäude, an dem er ohnehin vorüber muß, sprechen muß. Ich habe Wichtiges für ihn. Dränge auf Eile, da sonst Passieren der Elbe vor Tagesanbruch nicht mehr möglich.
    Meine Uhr zeigt drei. In diesem Augenblick fährt Göring an der Spitze seiner Wagenkolonne in hohem Tempo an meinem Hause vorbei und durch das Tor bei der Hauptwache hinaus. Abgefahren ohne Aussprache und Abschied.
    *
    Der Oberst Richard Wolf
Nürnberg
    Kampfmäßig verlief die Nacht zum 20. April verhältnismäßig ruhig. Gegen 0.30 Uhr mag es gewesen sein, als mich Liebel [Oberbürgermeister] verließ. Er

Weitere Kostenlose Bücher