Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
war seelisch sehr niedergeschlagen. [...] Kaum war Liebel gegangen, da hörte ich einen peitschenden Knall. Von einer trüben Ahnung erfaßt, eilte ich in den vom Gauleiter mit seinem Stabe belegten Raum des Bunkers. Liebel lag mit einem Kopfschuß tot auf seiner Pritsche. Der Revolver war seiner Hand entfallen. [...]
In den frühen Morgenstunden trafen die Meldungen vom weiterenVorrücken der Amerikaner ein. Der SS-Verband im Norden hatte seine Stellungen verlassen. Ein Funkspruch Hitlers traf ein, der dem Kampfkommandanten die Verleihung des Eichenlaubs zum Ritterkreuz und den Dank für das Aushalten aussprach.
Die Lage war unhaltbar geworden. Weiterer Widerstand sinnlos. Gegen 10.30 Uhr kann es gewesen sein, daß ich durch Funk an alle Einheiten das Einstellen des Kampfes befahl und ihnen ihr Handeln freistellte. Ich selbst war für mich entschlossen, Nürnberg nicht zu übergeben.
Nürnberg, die geschichtlich so bedeutende deutsche Stadt konnte im Kampf bezwungen, durfte aber auch in diesem dunkelsten Abschnitt ihrer Geschichte nicht übergeben werden.
Den ganzen Tag über war noch vereinzelter Kampflärm zu vernehmen, ratterten die in die Stadt einrückenden Panzer. Ich selbst versuchte mich mit meinem Ia nach Norden durchzuschlagen. Wir durchwateten in den Nachtstunden die Pegnitz. Anscheinend wurden wir von den Brückenwachen entdeckt. Feuerstöße aus Maschinenpistolen deckten uns ein. Handgranaten detonierten. Mein Ia blieb von dem Feuerüberfall ab verschollen. Über 2 Stunden suchte ich das Gelände nach ihm ab. Als ich vor der hereinbrechenden Morgendämmerung in einem Keller Schutz suchte, wurde ich von einem amerikanischen Posten überrascht und gefangengenommen.
Ein Schüler
Nürnberg
Das größte Erlebnis meines Vaters war, als er als Volkssturmmann im Alter von 50 Jahren am 20. April 1945 – ausgerüstet mit einem französischen Gewehr von 1865, zehn Patronen, nur zu einem italienischen Gewehr von 1870 passend, einer Panzerfaust ohne Zünder – im Angesicht zweier im Stadtgraben vor der Burg angeketteter lebender Ochsen, die als Nahrung während der Belagerung dienen sollten, die Burg von Nürnberg verteidigen sollte. Die ganze Tätigkeit bestand nur in der Hissung der weißen Flagge und Übergabe der Burg an die Befreier.
Paula Nemeskei 1904–1989
Nürnberg
Der 20. April 1945, der Geburtstag des Führers, wird der Tag, an dem die «Stadt der Reichsparteitage» endgültig besiegt wird! Wir sehen vom Boden aus, daß im Norden der Stadt noch geschossen wird, wir sehen, die Türme der Sebalduskirche haben keine Spitzen mehr, – muß denn unsere an sich schon so zerstörte Stadt noch ganz kaputt werden? Aber die Nationalsozialisten bleiben sich treu: alles noch opfern, weil sie selbst ihr Ende sehen.
Wir tragen die Betten nach oben – endlich mal ganz ausgezogen in frisch überzogenen Betten schlafen, soll es das wirklich geben?
Wie lange haben wir das schon nicht mehr gehabt. Der Tag ist wieder bunt bewegt, überall wird organisiert, Amerikaner kommen in die Wohnungen, suchen nach Waffen, fragen Verschiedenes, sind erstaunt, wenn wir ihnen von unseren Verhältnissen erzählen. Sie staunen über unsere demolierten Wohnungen, schütteln den Kopf, solch ein Leben! Wir verfolgen wieder vom Dachboden aus die Schießerei und merken, daß scheinbar gegen Abend doch der letzte Widerstand aufgehört hat. Am Abend sitzen wir dann bei Kerzenschein in der Wohnung und feiern.
Hanns Lilje 1899–1977
Nürnberg
In der letzten Nacht, während ich mein Bett wegen des besseren Schutzes gegen Granatsplitter unter das Gitterfenster gezogen hatte, drang aus dem Keller, wo die Gefängnisleitung mit ihren Getreuesten noch ein Abschiedsgelage veranstaltete, der Duft von Gebratenem und der Lärm weinseliger Männer herauf, während oben in ihren Zellen Hunderte von Männern zwischen Hunger und Todesangst fiebernd auf ihre herannahende Befreiung hofften. Ich selber habe geschlafen und sehe ein, daß ich eines Tages eine theologische Abhandlung werde schreiben müssen über den Schlaf als eine Form, Gott zu loben.
Ich bin gänzlich ruhig, als am andern Vormittage, während das Ohr noch kaum eine Veränderung im Artilleriebeschuß wahrzunehmen vermag, plötzlich nach kurzem Lärm auf dem Flur die Zellentür aufgerissen wird und einer der Leidensgenossen mit Freudentränen hereinstürzt: «Die Amerikaner sind da!»
Es sind wirkliche Freudentränen, die in seinen Augen stehen, und es ist eine ehrliche Entrüstung,
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