Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
dem Tode stehenden Tuberkulosen, der glaubt, daß sich jetzt alles zum Besten wenden wird. Oder hat hier ein völlig Wahnsinniger gesprochen? Denn wie kann man sonst in dieser Lage sagen, daß, wenn wir nicht kapitulieren, wir doch noch oben bleiben werden, unsere Ideen die Welt erobern werden, daß in wenigen Jahren unsere Städte schöner entstehen werden als je, die Felder reife Frucht tragen werden und Arbeit und Wohlstand zu finden sein werden. Und das wagt ein Mensch zu sagen, der früher einmal Anspruch gemacht hat, als Vertreter der deutschen Intelligenz gewürdigt zu werden! Die Antwort kommt im Radio von der Gegenseite. Churchill wird heute als Geburtstagsgeschenk an den «Führer» Enthüllungen über die deutschen Konzentrationslager bringen, insbesondere über Buchenwald, und das, was dort herauskommt, dürfte furchtbar sein. Und was den Wohlstand anbetrifft, so kann man Näheres aus einer Aufforderung Eisenhowers an die deutschen Seeleute entnehmen, der angekündigt hat, daß nun die deutschen Schiffe zur Versorgung Deutschlands herangezogen würden. Das wird die Nazis aber nicht hindern, auch diese zu versenken. Denn ihnen ist es gleich, wieviel Menschen in Deutschland sterben.
Im übrigen spricht die ausländische Presse einhellig vom «letzten» Geburtstag des Führers, und sie dürfte damit recht behalten.
Hans-Jochen Vogel *1926
bei Pisa
Am Abend des 19. April 1945 hörte ich zusammen mit einer Handvoll Kameraden in einem halbzerstörten Bauernhaus Joseph Goebbels’ Rede zu Hitlers 56. Geburtstag. Obwohl wir wußten, daß die Alliierten und auch die sowjetischen Truppen schon tief nach Deutschland vorgestoßen waren und die Heimatorte der meisten von uns bereits besetzt waren, und obwohl auch in unserem Frontabschnitt der endgültige Zusammenbruch schon begonnen hatte, gelang es diesem teuflischen Verführer noch einmal, uns für einen Augenblick in seinen Bann zu ziehen. Ob nicht doch im letzten Moment noch die Wunderwaffen, von denen er redete, eine Wende brächten? Und ob nicht doch vielleicht der Tod des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, den er wohl mit dem Tode der russischen Zarin Elisabeth während des Siebenjährigen Krieges verglich, zum Auseinanderfallen des Bündnisses der Westmächte mit der Sowjetunion führen würde; so wie der Tod der Zarin Elisabeth das Ausscheiden Rußlands aus der Allianz gegen Friedrich den Großen zur Folge hatte? So fragten wir uns. Aber die Wirkung dieses letzten Versuches einer Massensuggestion verflog binnen weniger Minuten. Einschläge in nächster Nähe und der Anblick einzelner oder auch in Gruppen zurückflutender Soldaten brachten uns rasch auf den Boden der Realität zurück.
*
Der Generalfeldmarschall
Wilhelm Keitel 1882–1946
Berlin
Am 20. 4. gegen Mittag fand der letzte großangelegte Luftangriff der englischen und amerikanischen Luftflotten auf das Zentrum (Regierungsviertel) von Berlin statt. Mit meiner Frau, Herrn und Frau Dönitz und den Adjutanten beobachteten wir dieses gewaltige, schaurige Schauspiel von der kleinen Anhöhe im Garten der Dienstwohnung des Großadmirals, der nachts zuvor von seiner Befehlsstelle «Koralle» (Gegend von Eberswalde) wegen dessen Gefährdung durch die Russen, nach Berlin zurückgekehrt war.
Die schon schwer beschädigte Reichskanzlei war bei diesem letzten Großbombardement an einem sonnenklaren Tage nicht erneut getroffen worden, eigene Jagdgeschwader zur Abwehr des Angriffes traten über Berlin nicht in den Kampf, die Flak-Abwehr war gegenüber der Flughöhe des Gegners wirkungslos. Der Luftangriff von fast 2 Stunden vollzog sich wie [beim] Friedensexerzieren in exaktesten Formationen und kommandomäßigem Abwurf der Bomben.
Von 4 Uhr nachmittags [an] war zum Lagevortrag in der Reichskanzlei (Führerbunker) befohlen. Jodl und ich betraten den Bunker, da sahen wir den Führer in Begleitung von Goebbels und Himmler in die Tagesräume der Reichskanzlei hinaufgehen; der Aufforderung eines Adjutanten, mich anzuschließen, kam ich nicht nach, weil ich vorher keine Gelegenheit gehabt hatte, den Führer zu begrüßen. Man sagte mir, daß oben in der Reichskanzlei eine Anzahl Hitler-Jungen Aufstellung genommen hatte, denen für ihre hervorragende Haltung bei feindlichen Luftangriffen im Luftschutz- und Flak-Dienst Tapferkeitsauszeichnungen, darunter auch mehrere Eiserne Kreuze, verliehen werden [sollten].
Nach Rückkehr des Führers in den Bunker wurden in seinen kleinen Wohnraum, neben dem
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