Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
auch nicht mehr im geringsten, daß der Lagerkommandant immerdicker und du immer dünner wirst, und wunderst dich nur manchmal, wie wenig man eigentlich zum Leben braucht. Was haben wir früher schamlos gefressen!
Aber ganz versturen wir doch nicht. Sogar geistige Betätigung ist erlaubt. Mit Begeisterung wird hier Englisch gelernt, dort Stenographie. Ganze Hefte aus dem reichlich gelieferten Klosettpapier werden mit Kochanweisungen für die leckersten Gerichte gefüllt.
Und noch andere Talente entwickeln sich in solcher Umgebung, das sind die Verpflegungsexperten. Schon von weitem erkennen sie, in welchem Topf die Suppe dicker oder dünner ist. Alles wird gezählt: Wenn am Morgen die Kolonne beladen vom Verpflegungsstapel ins Lager zurückkommt: 45 Sack Brot, 3 Säcke weiße Bohnen, 4 Karton Keks, 4 Kisten Rosinen, 6 Dosen Milchpulver usw. Kurze Zeit darauf wirst du mit einer genauen Vorhersage der «Speisenfolge» überrascht.
Dann kannst du auch den Reinlichkeitssinn der Menschheit bewundern lernen. Für 3000 Menschen steht immerhin ein Wasserhahn zur Verfügung und ein paar Waschbecken unter freiem Himmel.
Mariela Kuhn *1909
(Oxford/Head Injury Hospital)
Sulger, jetzt allein mit sich selbst, ist sehr einsam und langweilt sich; er ist seit dem 12. März hier. Unterhielt mich lange mit ihm, hauptsächlich über die Entdeckungen (die schrecklichen) in den Konzentrationslagern Buchenwald und Nordhausen – heute waren Bilder in den Zeitungen. Sie können diese Dinge nicht glauben, selbst wenn sie sie auf Bildern sehen. Sulger sagt: «Ja, aber haben Sie die furchtbaren Bilder von den polnischen Verbrechen vor dem Krieg gesehen? Diese Geschehnisse haben den Krieg tatsächlich ausgelöst!»
Röhl auf Station M1 war wach und ganz guter Stimmung – sprach lange mit ihm über das gleiche Thema, weil es das erste Mal ist, daß man ihnen konkrete Bilder von diesen Verbrechen zeigen kann. Er sagte: «Ich kann das nicht glauben», nimmt aber an, daß das wahr ist und sie von diesen Dingen nichts gewußt hätten. Er legt sich weder in der einen noch der anderen Weise fest. Ich zeigte ihm auch Bilder vom «Blitz» über England 1940/41, weil die deutsche Propaganda immer nur von «Terrorangriffen» auf Deutschland spricht. Sie alle (die Kriegsgefangenen) möchten wissen, wie schwer London wirklich bombardiert worden ist usw.
Station M3: Heinz Kasburg fährt morgen ab, etwas zu früh, da er noch weit davon entfernt ist, gesund zu sein. Aber er möchte in das «Waterford-Kriegsgefangenen-Hospital», weil er sich hier einsam fühlt, unddort hofft er, Freunde zu treffen. Daher hatten wir ein letztes, langes Gespräch. Er war wegen der Zeitungsberichte und Fotos erschüttert, so daß ich wirklich Mitleid mit ihm hatte; er sagte immer wieder: «Das kann nicht wahr sein, Deutsche machen so etwas nicht», und vergrub sein Gesicht in den Kissen.
Dann erzählte er mir von den polnischen Verbrechen. Er sagte: «Jahrelang war ich doch in der Hitlerjugend, und wir haben nie davon gehört oder ähnliches gesehen, und ich habe so an den Nationalsozialismus geglaubt und daß er etwas Gutes ist, und ich habe versucht, ihn zu vergleichen mit Sozialismus und Plutokratie und Demokratie und bin immer wieder zu der Überzeugung gekommen, das der Nationalsozialismus die beste Regierungsform für das deutsche Volk ist.
Wir sprachen über Hitler: «Ich habe immer so an den Führer geglaubt, ich hätte mich in Stücke reißen lassen für ihn.» Und er wiederholte immer wieder: «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was das auf einmal für mich heißt. Noch vor 14 Tagen war ich in der Armee und habe nie an der Wahrheit des deutschen Rundfunks gezweifelt oder an dem, was uns gesagt wurde, und auf einmal soll das alles nun falsch und unwahr und schlecht sein!»
Der Junge tat mir leid. Er erzählte mir, daß sein Vater Oberstudienrat war und am Anfang gegen Hitler, er war kaisertreu. Später meldete er sich freiwillig zur Armee, obwohl er schon 45 Jahre alt war. Antisemitismus kam in die Familie, als die Großmutter in Cottbus nach dem Tode ihres Mannes einen jüdischen Kaufmann bat, ihr großes Geschäft zu übernehmen. Er scheint den Laden ruiniert zu haben, türmte mit dem Geld und ließ die Familie von da an antisemitisch zurück. Eine sehr typische Geschichte.
Kasburg äußerte immer wieder, wie besorgt er um die Zukunft Deutschlands sei, was würde aus Deutschland unter russischer Herrschaft werden? Wie würde sein eigenes Schicksal sein? – Er
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