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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Ärmchen und Waden zu erhalten! Es muß an dem Naschwerk liegen, das jede der Aufsichtsdamen für sie bereithat; und vor lauter Verwöhnung und Huckepack wurde sie, wie ein kleiner Spatz im Winter eben wird: ein wenig keck, und gerade dadurch hat sie zu seiner Belustigung jeder gerne ein Weilchen bei sich. Da kam es wohl auch den kleinen Stalin heut’ mal an, seine Kinderfreundlichkeit an ihr zu beweisen. Als sie da im Kies wühlte, hielt er inne, lächelte auf sie herunter und sagte etwas Kinderliebes, indem er ihr die Hand hinstreckte. Und just da geschah das Bedenkliche: Christa, die in diesem Augenblick sonst jedem gegen die Knie fliegt und aufgenommen werden will – sie blieb wie angewurzelt stehen, wandte kein Auge von ihm, kein Lächeln entblößte ihre herzigen weißen Mausezähnchen – dann legte sie nachdrücklich ihre Patschhände auf den Rükken, und plötzlich machte sie kehrt und wuselte davon.
    Klein-Stalin kniff die Lippen zusammen und stürmte mit drei Schritten in unsre Kinder-Baracke herein, erblickte auf unsern Tischen die Sträuße vom gestrigen Spaziergang – fegte einen samt Vase vom Tisch – den zweiten, den dritten, fauchte: «Pas de fleurs aujourd’hui!» und stob davon, zur nächsten Baracke! Wir sahen Madame Duliac in die dritte laufen, auf den Lippen den Ruf: «Pas de fleurs aujourd’hui!» der sich fortpflanzte von Haus zu Haus.
    Keine Blumen heute? Was sollte es? Da erinnerte sich jemand: Führers Geburtstag!
    Rudolf Br adatsch
Kriegsgefangenenlager Hayes/England
    Der zur Zählung eingeteilte Feldwebel erschien im Lager, wir waren schon angetreten. Nachdem er das Lager betreten hatte, sah er zwischen den beiden großen Zelten eine Hakenkreuz fahne flattern. Er gab sofort Alarm, und die Wachmannschaft trat mit Maschinenpistolen bzw. aufgepflanzten Seitengewehren an. Nun wurden wir gefragt, ob der Täter sich nicht selbst melden wolle. Nachdem sich niemand gemeldet hatte, wurde aus der Wachmannschaft ein wilder Haufen schreiender und tobender Soldaten. Bis dahin waren wir mit den Wachsoldaten immer gut ausgekommen. Die angetretenen Kriegsgefangenen wurden nunin Gruppen eingeteilt, und dann begann der Zirkus. Ein Teil von uns mußte strammstehen, eine andere Gruppe mußte singen, und wieder andere Gefangene wurden im Laufschritt durch das Lager gejagt, dabei wurde von den Wachsoldaten mit den Waffen herumgefuchtelt und geschrien, als wenn eine Horde Indianer einen Angriff ausführt. In der zweiten Abteilung des Zirkusses mußten wir das Lager abbrechen, die doppelten hölzernen Unterböden der Zelte wurden genau wie die Zelte selbst außerhalb des Lagers auf einen Haufen gestapelt.
    Nun kamen die Gehwegplatten, die sich als Wege zwischen den Zelten sehr gut bewährt hatten, an die Reihe und wurden ebenfalls entfernt und außerhalb des Lagers aufgestapelt. Um die einzelnen Zelte hatten die Kriegsgefangenen im Laufe der Zeit kleine Beete und Rasenteile angelegt, um das Lager etwas menschlicher aussehen zu lassen. Davon war nach dieser Prozedur nichts mehr zu sehen, denn die kleinen Beete waren schnell verschwunden und zusammengetrampelt worden. Die großen Zelte mußten selbstverständlich auch noch abgerissen werden und die Bänke und Tische auch noch auf dem großen Haufen gestapelt werden. Die Gefangenen wurden mit viel Geschrei angefeuert, und wenn einzelne Gefangene nicht schnell genug liefen (nach Meinung der Wachmannschaft), dann wurden Gewehrkolben und Seitengewehre eingesetzt. Einige Kriegsgefangene hatten Hieb- und Stichverletzungen erlitten und mußten im Revier behandelt werden [...] Was mich damals sehr befremdet hat, waren die deutschen und englischen Offiziere, die sich am oberen Teil des Lagers dieses Treiben anschauten, aber niemand machte diesem Zauber ein Ende.
    *
    Ludwig Munzinger *1921
(Kriegsgefangenenlager/Frankreich)
    Durch immer neue harmlose kleine Demütigungen wirst du schließlich zum Einheitsgefangenen, der antritt, wenn gepfiffen wird, und schlafen geht, wenn es dunkel wird. Du siehst dann auch nicht mehr die auf den Postentürmen lümmelnden jungen Franzosen, die so tun, als hätten sie Europa vor der nazistischen Barbarei gerettet. Aber vielleicht gebärden sie sich ja gerade deshalb so wild, weil sie es eben nicht taten, sondern andere.
    Dich stören dann auch am Sonntag die Franzosen nicht, die mit Kind und Kegel johlend am Lager vorbeiziehen und in unmißverständlichen Gebärden ihren «Sympathiegefühlen» Ausdruck verleihen. Es erschüttert dich

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