Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
glaubte, es sei besser sich zu erschießen, als in Schande und Sklaverei zu leben usw. Ich bemühte mich, alles zu sagen, was man dazu sagen kann, er tat mir schrecklich leid, er nimmt alles so ernst und ist richtig bekümmert. Während seines aktiven Dienstes war er in der Division Hermann Göring.
Erich Kuby *1910
Kriegsgefangenenlager Landerneau
Drei Amerikaner kamen ins Zelt, von denen mich der eine über den Büchereibetrieb ausfragte und sich Notizen machte. Vielleicht will er darüber schreiben. Einer betrachtete mit spürbarem Interesse die Holzschnitte. Er bat um einen Satz der Blätter. Ich sagte, wir hätten zur Zeitnur die Musterabzüge, und ob er sich nicht gedulden wolle, bis neue Drucke vorhanden sind. Er respektierte die Bitte, ohne mit einem Wort dagegenzusprechen. Das gibt’s eben auch.
Wenn sie nur nicht so schrecklich ahnungslos wären, unsere Obersieger.
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Der General
Siegfried Westphal 1902 –1982
im Westen
Mitte April griff die US-Army Richtung Nürnberg an. Teile drehten auf Passau ab. Französische Truppen drangen am 20. April in Stuttgart, Sigmaringen und Freiburg im Breisgau ein. Am gleichen Tage – Hitlers letzter Geburtstag – war Feldmarschall Kesselring noch einmal in der Reichskanzlei.
Ich hatte ihn dringend gebeten, Hitlers Zustimmung zu einer Waffenstreckung einzuholen, da jeder weitere Widerstand zwecklos und ein Verbrechen gegen die Nation sei. Nach einer sehr schwierigen Autofahrt – Fliegen war für uns schon lange nicht mehr möglich – kehrte Kesselring am nächsten Tag gewissermaßen auf Schleichwegen zurück – so eng war die Nord-Süd-Passage bereits geworden. Er berichtete von der «Gratulationscour». Ich brannte darauf, die Sachentscheidung zu hören. Dazu war man aber nicht gekommen. Hitler sei recht «aufgeräumt» gewesen. Sachlichen Erörterungen war er natürlich mit bekannter Meisterschaft ausgewichen.
*
Hans Erich Dalgas 1896–1987
Bremen
«Kaisers Geburtstag». Die Lage wird immer aussichtsloser. Ich kann mir keinen verstandesmäßigen Ausweg mehr denken. In der Stadt öfters Feuerüberfälle. Im Garten lasse ich noch ein kleines Bunkerchen bauen.
Luise Solmitz 1889–1973
Hamburg
Gebet im Rundfunk: «Herrgott, steh dem Führer bei; gib, daß Dein Werk sein Werk sei, gib, daß sein Werk Dein Werk sei!»
Eine einzige Flagge, Gustav-Falke-Straße 81 links. Es sprach sich herum. Dr. Henneberg sagte, leider werde es doch zum Großkampf in Hamburg kommen, deutsche Truppenansammlungen bei Lauenburg! Keine Milch, da die Strecke nach Elmshorn kaputt. Den ganzen Tag grollte esdumpf von der Front Harburg. Wir machten Besorgungen, nahmen Ri. mit. Köstliche Baumblüte, Magnolien, Mandel-, Obstbäume, so schön, so unschuldig. Wer kann sich ihrer freuen!
X. fürchtet Gefangenschaft in Hamburg ... Zivilanzug, aber den darf er nicht anziehen.
Spät abends Krachen, das Ri. aufweckte. Er schrie. Ich holte ihn. Er schlief an meiner Schulter ein, so rührend. 60000 Kinder sollen in Hamburg sein.
Frau W. ganz aufgeregt, war gerade draußen, der Tiefflieger über ihr; sie sah das Aufblitzen der Geschütze.
Jetzt in der Nacht beängstigendes Schießen ohne Alarm; der Feind ist wohl schon in Harburg drin. Es ist unheimlich, grausig. Weil ich so Angst um Ri. habe.
Gestern Goebbels-Rede, heute wiederholt. Ja, nun sitzen wir wirklich vorm letzten bitteren Ende, so oder so.
Mathilde Wolff-Mönckeberg 1879–1958
Hamburg
Nun stehen wir vor der Endkatastrophe! Die Amerikaner sind bis Harburg vorgerückt, und der Kanonendonner rollt über unserer Stadt. [...] Hamburg ist Festung, und überall ziehen sich höchst merkwürdige Barrikaden durch die Straßen, die aus den Häusertrümmern errichtet sind und über die man mittels kleiner, aus groben Steinplatten gefertigter Treppen, wie von Kindern aus Spaß gemacht, herüberklimmen muß. Ob sie was nutzen? Der Hamburger lacht und zuckt die Achseln, er glaubt nicht daran. Baldrian verkündet allabendlich mit tiefer Baßstimme die beruhigende Litanei, daß unser Statthalter es sehr gut mit uns meine, und er beweist es auch durch sehr willkommene Extrazuteilungen wie 100 Gramm Kaffee, 50 Gramm Tee, 2 Pfund Zucker, 1/2 Pfund Margarine. Außerdem haben wir schon Zuteilungen für die 75. Periode erhalten an Mehl und Fett und Zucker, was alles als eiserne Ration in den Keller gewandert ist. [...]
Am Dammtor haben Luftminen und Bomben gewütet, die Alsterterrasse existiert nicht mehr, nur Trümmerhaufen, rauchende, schwelende,
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