Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
in der Klopstockstraße keine einzige Fensterscheibe, die Universität eine Ruine mit leeren Fensterhöhlen, gegenüber ganze Häuser fort, das englische Seminar ebenfalls ohne Scheiben mit herausgerissenen Türen, sogar die Tischplatte von Vater W.s Tisch wurde vom Luftdruck abgerissen. Und so sieht es in der Johnsallee, am Mittelweg und in der Badestraße auch aus. Ganz große Etagenblocks sind vernichtet, wie Kartenhäuser umgepustet, nur nicht so leise. Es müssen Riesenbrände und einHöllenspektakel gewesen sein. Die arme Annie Stammann, Schwester von Tante Lili Siemsen, ist unter ihrem zusammenstürzenden Hause begraben worden und erst nach 3 Tagen gefunden worden. Die alte 90jährige Tante Adele Mönckeberg starb infolge dieser fürchterlichen Nacht. [...]
Vielleicht wird es Kinder und Kindeskinder später noch mal interessieren, dieses zu lesen, für uns ist es furchtbar, und der Druck der letzten 6 Jahre liegt zentnerschwer auf einem. Heute abend geht das Gerücht, daß Hamburg zur offenen Stadt erklärt wird. Wäre es nur wahr!
Ulli S. *1928
bei Hamburg
Heute «feiert» Adolf Hitler seinen 56. Geburtstag. Und gerade weil es sein 56. Geburtstag ist, sollte er ihn noch einmal ordentlich als Festtag begehen. Aber nach Feiern ist ihm gar nicht zumute, was man schließlich auch verstehen kann.
Mit den sonst so großartigen Geburtstagsüberraschungen ist es in diesem Jahr auch nicht weit her. Die einzigen, allerdings unliebsamen Überraschungen für ihn sind heute, daß Nürnberg, die Stadt seiner Parteitage, in amerikanischer Hand ist, und daß die Russen vor Berlin durchgebrochen sind und Freienwalde, Wriezen, Seelow, Lebus, Beeskow, Forst und Weißwasser eroberten und noch 30 km vor Berlin und Dresden stehen.
Goebbels’ Geburtstagsrede fiel daher auch recht weinerlich aus. Beflaggung wurde untersagt, da die Volksgenossen in den Frontgebieten größtenteils farbenblind sind und leicht Rot und Weiß verwechseln könnten.
Das letzte deutsche Panzerschiff «Lützow», wurde am 16. April vor Swinemünde von 2 panzerbrechenden Bomben getroffen. Das 10000 t- Schiff sank in der Nähe des Strandes auf Grund. Die Beschädigungen sind so schwer, daß es als verloren angesehen werden muß.
Amerikanische Berichterstatter bringen Meldungen aus den besetzten Konzentrationslagern Buchenwald, Nordhausen, Belsen und Ohrdruf, die so grauenhaft, so himmelschreiend sind, daß man meinen könnte, der Verstand bliebe einem stehen. Die ganze Welt steht starr vor Grauen. Man möchte sagen: «Das stimmt nicht! Das ist Lüge!» So etwas gibt es im Lande Goethes nicht! In keinem «noch so primitiven Lande der Erde würde das möglich sein»!
Dr. Erwin Garvens
Hamburg
War denn nun also der 56. Geburtstag Hitlers, den er, so hieß es, sich noch zu erleben gewünscht haben soll, weil dieser Tag nach seinem Horoskop für ihn besonders bedeutungsvoll zu werden verspreche. Nach den Abendmeldungen stehen die Engländer an der Unterelbe – u. a. einen Kilometer vor Harburg! – und beschießen die nach Nor‑
den flüchtenden Truppen. Die Leute auf der Straße nehmen von der Schießerei kaum Notiz, sehr viele werden es überhaupt nicht begriffen haben, was vor sich ging. Über Tag war allerdings ein Dauer-Kleinalarm, durch den sich aber niemand stören ließ; auch ich nicht, indem ich um 4 Uhr in den «Kammer-Lichtspielen» einen ganz niedlichen und geschickt gemachten Film «Das Hochzeitshotel» ansah. Auch abends und nachts gab es keinen Alarm, so daß unsere Vorsichtsmaßnahme hinsichtlich Zubettgehen in Kleidung – ich mag es gar nicht! überflüssig gewesen. Sollte der Luftkrieg auch für uns zu Ende sein? Es wäre ein Segen!
*
Benito Mussolini 1883–1945
Mailand/Palazzo Monforte
Interview
Ich habe hier Beweise, daß ich mit all meinen Kräften versucht habe, den Krieg zu verhindern. Sie erlauben es mir, absolut ruhig und unbeschwert gegenüber dem Urteil der Nachkommenden und den Schlußfolgerungen der Geschichte zu sein. Ich weiß nicht, ob Churchill so ruhig und unbeschwert ist wie ich.
Merken Sie sich das gut: Wir habe die Welt der großen Geschäftemacher und der großen Spekulanten erschreckt. Sie haben nicht gewollt, daß uns die Möglichkeit zu leben gegeben wird ...
Wenn der Ausgang des Krieges für die Achse günstig gewesen wäre, dann hätte ich dem Führer nach dem Sieg die Sozialisierung der Welt vorgeschlagen und das heißt: Grenzen nur historischer Natur; Abschaffung aller Zollämter; freier Handel von
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