Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
zu lassen.
*
Thea Sternheim 1883 –1971
Paris
Die Sensation des Tages: Philipp Petain erklärt sich von der Schweiz her bereit, sich der französischen Justiz zu stellen.
Die Nachricht löst eine ungeheure Erregung in den Petain feindlichen Kreisen aus. [...]
Diese Reaktion lässt mich über die sonderbare Rechtsauffassung der in Wallung geratenen Massen nachdenken. Ich habe sicher nie Sympathie für Philipp Petain empfunden – ist mir doch alles was Uniform trägt à priori suspekt – aber dass ein Marschall von Frankreich, dem man Landesverrat und Gott weiss was vorwirft, sich nicht einmal verteidigen soll, damit die durch den Umsturz ans Ruder Gelangten in ihren Maschinationen nicht gestört werden, scheint mir immerhin auch nur ein Vorstoss auf dem Wege zu Illegalität.
Die Schlacht in Berlin tobt weiter und scheint sich zum Teil, Mann gegen Mann, in der Untergrundbahn auszutragen.
Der Archivar Chobaut
Avignon
Die Franzosen haben den Rhein nördlich von Basel überquert und Lörrach eingenommen. Vissault de Coëtlogon, bretonischer Separatist und Mitglied der Waffen-SS, wurde in der Festung von Montrouge hingerichtet. Die Berufung gegen die Todesstrafe im Fall Lucien Rotée, des ehemaligen Leiters des Nachrichtendienstes, wurde abgelehnt. Carles, ehemaliger Präfekt der Region Nord hat sich vergiftet; er sollte vor Gericht erscheinen. Bollaert frei.
Der Offizier der Waffen-SS
Léon Degrelle 1906–1994
Prenzlau
Prenzlau war eine alte Stadt, ihre wie Festungstürme massiven Backsteinkirchen waren von bezaubernden schmalen Spitzbogen aufgelockert.
Als wir am 25. April durch die Stadt kamen, begann auch ihr Todeskampf. Seit mehreren Tagen warf die sowjetische Luftwaffe Bomben ab. Zusammengestürzte Häuser erschwerten den Verkehr. Erschöpfte Zivilisten flohen truppweise.
Dreitausend Offiziere der belgischen Armee hatten gerade die Kaserne von Prenzlau verlassen, wo sie nach der Kapitulation vom 28. Mai 1940 interniert worden waren. Sie schwitzten und keuchten auf der Landstraße. Generäle mit roten Köpfen und schiefem Käppi wischten sich am Straßengraben das Gesicht ab oder schoben, wie dicke, kurzatmige Kinderfrauen, Kinderwagen vor sich her, auf denen sie ihr ganzes Gepäck verstaut hatten. Große sportliche Leistungen waren von ihnen nicht zu erwarten. Die Russen würden sie bald haben.
Unsere Stellungen lagen einige Kilometer nordwestlich von Prenzlau.
Ich richtete meinen Befehlsstand im Schloß von Holzendorf ein, in dem es von stöhnenden Flüchtlingen wimmelte. Die meisten waren aus dem Rheinland nach Osten evakuiert worden. Jetzt fielen ihnen die Russen in den Rücken und trieben sie nach Westen, dahin, woher sie gekommen waren.
Diese Aufregung war zu viel für sie. Viele Frauen blickten verstört um sich. Eine von ihnen zog drei kleine Kinder an ihrem Rock. Sie erwartete ein viertes Kind und bewegte sich mit ihrem riesigen, ganz spitzen Leib in diesem fürchterlichen Durcheinander. Am Abend verlor sie denVerstand. Sie lag flach auf dem Rücken, weinte, schluchzte und verweigerte jede Hilfe.
Flämische und wallonische Freiwillige waren von nun ab bis zum Schlußgeschehen vereint.
Der Fähnrich z.S.
Peter Meyer-Ranke *1925
Prenzlau
Morgens am 25. April waren wir in Prenzlau, einer ausgestorbenen Stadt, die zwei Tage später von den Russen besetzt wurde. Wir fuhren gleich zum Bahnhof, das große Lazarett war schon geräumt. Dort stand ein Lazarettzug, das heißt sechs Viehwagen und acht alte Personenwagen 3. Klasse. Der Zug hätte eigentlich am Abend vorher abfahren sollen, doch es kam keine Lok.
Nun wurden wir als letzte verladen; Sanis, ein Arzt und eine junge Rote- Kreuz-Schwester verteilten heißen Kaffee, Brot und rote Einheitsmarmelade. Ich kam zu fünf Flamen in ein Abteil, die mindestens einmal im Satz «Gott verdammich» fluchten.
Aber wir arrangierten uns: Ich lag und schlief wie einer der jungen SS- Männer im Gepäcknetz, zwei schliefen auf den Holzbänken und zwei auf dem Fußboden. Wir bekamen noch Decken zugeschmissen, dann fuhr der Zug los. Die Lok war endlich gekommen, es mag so um sechs Uhr früh gewesen sein.
Erich Kuby *1910
Kriegsgefangenenlager Landerneau
Zwei Soldaten in deutscher Uniform kamen in die Bücherei und sagten auf französisch: Sie sprechen Französisch, mein Herr?
Ich: Ja, was wünschen Sie?
Haben Sie französische Lektüre?
Ein wenig, nichts Besonderes leider. Sind Sie Franzosen? Woher? (Der eine:) Aus Brest.
(Der andere:) Aus
Weitere Kostenlose Bücher