Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
hier, mal dort und weiß bald nichts mehr, ich gehe wieder durchs Fenster in unsere Küche. Da kommt der Russe, der mich wahrscheinlich immer verfolgt hat, draußen ans offene Fenster und gibt zu verstehen: Er will Heu für Pferde. Ich verweise auf unseren Polen als Besitzer, doch er bleibt dabei: «Du zeigen.» Kaum im Stall angekommen, grinst er mich an und wirft mich mit voller Wucht auf den Mist im Stall, reißt mir die Unterwäsche ab. Es geht ihm alles nicht schnell genug, sein Gewehrkolben hilft nach. Er hat es geschafft! Mir schwindelt, ein Ruck innerlich, ein Blutsturz, ich liege in einer Blutlache. Er springt auf, schlägt mit dem Gewehr auf mich ein: «Deutsches Schwein», und geht zur Seite. Das Blut wischt er sich ab und geht fluchend hinaus.
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Der Flugkapitän Hans Baur 1897–1993
(Berlin)
In der neuen Reichskanzlei sah es trostlos aus. Gardinenfetzen wehten hin und wieder aus den dunklen Festerhöhlen. Alles Leben war aus den riesigen Räumen gewichen. Wilhelmsplatz und Voßstraße waren Kriegsschauplatz geworden. Der ungefähr fünfhundert Meter lange Komplex war unterkellert. [...]
Es war möglich, mit Kraftfahrzeugen in die unterirdischen Teile zu fahren. Zu anderen Zeiten waren die Lastwagen nach unten gefahren, um Koks zu bringen. Jetzt brachten sie Verwundete – wenn sie überhaupt noch fuhren. In den letzten Tagen kamen rund 600 Verwundete an und 900 bis 1000 Zivilisten, Frauen und Kinder, die nach irrsinniger Jagd durch Berlin hier Zuflucht suchten.
Hitler wohnte in einem eigenen Bunker. Hier gab es nur wenige Räume für ihn, seinen Diener, den Arzt und das unbedingt notwendige Personal.
Die Sekretärin Traudl Junge 1920–2002
Berlin
Nach dem 23. April 1945 (die Russen waren schon in die Reichshauptstadt eingedrungen) hat er nur noch vom Ende und vom Untergang gesprochen. Er hatte grausige Vorstellungen von dem, was die Sieger mit Deutschland machen würden. Nach seiner Schilderung gab es für unser Volk überhaupt keinen Hoffnungsschimmer.
Der General
Helmuth Weidling 1891 –1955
Berlin
Um 22.00 Uhr traf ich in der Reichskanzlei mit dem Bericht über die Lage ein. Der Führer saß wieder hinter seinem Tisch mit den Karten. Der verhältnismäßig kleine Raum war voll von Menschen. [...]
In langen, sich wiederholenden Sätzen legte er [Hitler] die Gründe dar, die ihn dazu zwängen, in Berlin zu bleiben und entweder hier zu siegen, oder unterzugehen. Alle seine Worte drückten so oder anders nur den einen Gedanken aus: mit dem Fall von Berlin ist die Niederlage Deutschlands unzweifelhaft. [...]
Ich, ein einfacher Soldat, stand hier an dem Ort, von dem aus früher das Schicksal des deutschen Volkes gelenkt und an dem es bestimmt worden war. Ich begann einiges zu begreifen. Mir wurde immer klarer, weshalb wir das Ende Deutschlands erleben mußten.
Niemand in diesem Raum wagte, seine eigene Meinung zu äußern. Alles, was aus dem Munde des Führers kam, wurde mit voller Zustimmung aufgenommen. Dieses war eine Kamarilla, wie sie ihresgleichen nichthatte. Oder befürchteten sie, aus diesem gesicherten und noch immer üppigen Leben herausgerissen zu werden, wenn sie ihre eigene Meinung vertreten würden?
Sollte ich, ein Unbekannter, hier in diesem Kreis ausrufen: «Mein Führer, das ist doch Wahnsinn! Eine solche große Stadt wie Berlin kann man nicht mit unseren Kräften und mit der vorhandenen geringen Menge an Munition verteidigen. Bedenken Sie, mein Führer, das unendliche Leid, das die Bevölkerung von Berlin in diesen Kämpfen wird ertragen müssen!»
Ich war so erregt, daß ich mich nur mit Mühe beherrschte, diese Worte nicht herauszuschreien.
Lagebesprechung
Berlin/Führerbunker
Hitler: In Berlin hat General Weidling die zentrale Führung, Oberst Kaether ist sein Stellvertreter. Der eine oder andere Divisionsstab kommt noch herein. Die Rahmenverbände werden in Ordnung gebracht und wiederaufgefüllt, so daß man Divisionen hat. Alles, was noch hereinkommt, wird in diese Divisionen eingegliedert, so daß eine richtige Ordnung zustande kommt.
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Anna Eleanor Roosevelt 1884–1962
Hyde Park bei New York
Gestern morgen kehrten wir nach Hyde Park zurück, etwa eine Woche nachdem wir uns alle zur Beerdigung in unserem von Hecken umgebenen Garten versammelt hatten. Meine Söhne und ich besuchten das Grab. Wenn nicht zwei Soldaten dort Wache gehalten und wenn die schönen Orchideen, aus dem Süden hereingeflogen, nicht die Stelle bedeckt hätten, wo die Erde sorgfältig
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