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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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angehäuft war, wir hätten nicht gewußt, daß der Rasen nicht so wie immer aussah.
    Bald wird der einfache Stein, den mein Mann so sorgfältig beschrieben hatte, seinen Platz gefunden haben, aber in der Zwischenzeit werden die Kinder und die Hunde nicht ahnen, daß hier vor nicht allzu langer Zeit eine feierliche militärische Beerdigungszeremonie stattfand, und sie werden glauben, daß dies nur ein Platz ist, auf dem Blumen wachsen, wo die Hecke sie vor Wind schützt und wo die Sonne so warm scheint. Und so wollte es mein Mann. Er liebte Kinder und Hunde und Sonnenschein und Blumen, und all dies umgibt ihn jetzt. [...]
    Es war ein wunderbarer Tag, aber sehr windig und kälter als vor zwei Wochen. Den ganzen Nachmittag und Abend brannten die Kaminfeuerin den Wohnzimmern. Aber das Haus selber war kalt, und ich wagte nicht die Heizung hochzudrehen, weil wir nur eine begrenzte Menge Heizöl haben. [...]
    Heute beginnt unsere schwerste Arbeit, da von Washington die Lastwagen eintreffen. Wir müssen Gegenstände auspacken und bereitstellen, um Nachlaß fragen zu klären. Ich sehe viele lange Arbeitstage in dem großen Haus vor uns, bevor es für Besucher fertig ist, und viele lange Abende, an denen wir die Post öffnen und lesen. Doch der Tag wird kommen, an dem wir wieder ein Buch lesen können ohne das Schuldgefühl, das auf einem liegt, wenn die Arbeit, die gemacht werden muß, nicht getan ist.
    *
    Ernst Jünger 1895–1998
(Kirchhorst)
    Über die Anschauung. In ihren Figuren genießen wir mit- und nebeneinander, was in der Logik nacheinander, als Kette erscheint. Das fiel mir heute im Garten ein, als ich eine tief sammetbraune Aurikel mit gelbem Kelch betrachtete. Der friedliche Genuß, den sie in mir hervorrief, beruhte darauf, daß ihre Farben die sanfte Wärme des gedämpften, gezähmten Feuers ausstrahlten. Gelb war der Herd, braun seine Dämmerung. Ein Scharlachsaum um die gelbe Mitte hätte vermutlich eine lebhaftere, doch unruhigere Heiterkeit erzeugt.
    Kurt Weill 1900–1950
Los Angeles/Hotel Bel-Air
    An Lotte Lenya in New York
    [...] Und was bedeutet das alles schon, wenn du bedenkst, daß die Russen in Berlin sind, und wenn du dir das Photo anschaust, das ich hier beilege. Das ist es doch, worauf wir seit 12 Jahren gewartet haben. Ist es nicht phantastisch, wie unvorbereitet diese Nazis auf die Niederlage waren? Bis zum letzten Moment wollten sie nicht glauben, daß sie wirklich zu besiegen sind – warum sonst sollten sie zu Tausenden Selbstmord begehen? Ich glaube nicht, daß jemals eine Nation so vernichtend geschlagen worden ist. «Götterdämmerung» war immer eine romantische Idee dieser kranken Gemüter, und jetzt, da sie Wirklichkeit wird, sind sie zu klein, sie zu ertragen. Welche Dummheit! Welche Feigheit! Was für eine «Herrenrasse»! Denkt man an den Mut, den Stolz, das Selbstvertrauen, die Engländer, Holländer, Russen und vor allem die Juden in der Stunde ihrer Niederlage gezeigt haben, erfüllt es einen mit tiefer Abscheu, diesen völligen Zusammenbruch jeder menschlichenWürde zu beobachten. Aber stärker als dieses Gefühl des Abscheus ist das Gefühl des «Vertrauens in die Menschheit» – in einem der großen Augenblicke der Geschichte zu sehen, wie der menschliche Geist fähig ist, eine Krankheit abzuschütteln, zu Anstand zurückzufinden und die größte Gefahr für Zivilisation und Fortschritt zu überwinden.
    Nun, während ich hier schreibe, ist die Sonne rausgekommen und ein kleiner blauer Vogel nimmt im Bach vor meinem Fenster ein Bad – und das Leben ist schön.
    Thomas Mann 1875–1955
Pacific Palisades
    Geschrieben an XXVI. Zum Haarschneiden in Westwood. [...] Heute die Eröffnung der Konferenz von San Francisco. Radio-Rede Trumans aus Washington. Stimmungsbilder im Radio. – Zu den deutschen Selbstmördern gehört der militärische Kommentator Generalleutnant Dittmar. – Schwerstes Luft-Bombardement von Hitlers Siedelung bei Berchtesgaden, die zerstört wurde. War er dort, mag er tot sein. Der Hamburger Sender fährt fort zu versichern, daß der Elende an der Kampffront in Berlin ist, wie die anderen Mitglieder der Regierung (?) In diesem Fall sind sie gefangen, denn die Stadt ist völlig eingeschlossen und wohl auch schon die Flugfelder genommen. Die Amerikaner beschießen Regensburg, nähern sich Augsburg. Deutsche Truppen ergeben sich massenweise den Amerikanern aus Angst vor den Russen. Pétain begibt sich durch die Schweiz nach Frankreich, um sich den Prozeß machen

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