Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Pedale wurden mit der Hand bewegt, gaben genug Licht zum Operieren.
Edmond Michelet 1899–1970
KZDachau
Plötzlich ein Operettenbild: Eine Gruppe französischer Waffen-SS von der Legion «Karl der Große», die behaupten, als Deserteure von der russischen Front und vor dem deutschen Kriegsgericht angeklagt zu sein, marschiert quietschvergnügt in Block 24. Ich gehe zu ihnen hin. Sie sehen alle unverschämt jung aus und tragen das blau-weiß-rote Schildchen neben dem SS-Totenkopf auf der Schulter stolz zur Schau. Zum Glück für unser Prestige waren die Pakete des Roten Kreuzes vor ihnen angekommen. Auboiroux kann sich nicht beruhigen. Er möchte diese französischen SS-Leute in den Block der deutschen Prominenten schicken. Leider liegt das nicht in unserer Macht.
Lagebesprechung
Berlin/Führerbunker
Hitler: Jetzt tritt das in Erscheinung, was mir einst Lloyd George sagte, der provisorische Friedensvertrag. Lloyd George erklärte damals in einer Denkschrift: Der Friede von Versailles wird unhaltbar sein und ist wahnsinnig. England zerstört das europäische Gleichgewicht. Es war eine klassisch prophetische Denkschrift von Lloyd George.
*
Der Rotarmist Alexei Saporoschez
Berlin
An seine Freundin
Guten Tag, liebe Dora!
Diesen Gruß sende ich Dir, meine Liebe, aus ... Berlin!
Ja, ja, aus der Hauptstadt Deutschlands, Berlin. Berlin brennt, von ihm sind nur noch Ruinen übrig, unter Tränen gehen auf den Straßen Frauen und Herren Richtung Osten. Wenn schon, sollen sie weinen, schließlich haben sie fast vier Jahre lang gelacht. Ganz Berlin besteht aus Ruinen, wir rücken ununterbrochen voran. Ich bin einstweilen gesund und munter und liebe Dich wie zuvor heiß und treu.
Wann werden wir uns sehen? Bald, wie es scheint, aber ... wenn bloß alles gut geht.
Ich küsse Dich herzlich
Dein Ljoschka Der Rotarmist Pjotr Sebeljow Berlin
Liebe Mamotschka, Papa, Schura, Taja!
Wir bewegen uns auf das Zentrum von Berlin zu. Überall gibt es Schießereien, Feuer, Rauch. Die Soldaten laufen von Haus zu Haus, kämpfen sich über die Höfe vorwärts. Die Deutschen greifen unsere Panzer aus Fenstern und Türen heraus an. Aber unsere Panzerfahrer unter General Bogdanow haben eine kluge Taktik gewählt: Sie fahren nicht über die Straßen, sondern auf den Bürgersteigen voran, und die einen schießen aus Kanonen und Maschinengewehren nach rechts, die anderen nach links, und die Deutschen laufen von Fenstern und Türen weg. Unmittelbar in den Höfen verteilen unsere Soldaten vom Versorgungsdienst von Autos herab Lebensmittel an die hungernde Bevölkerung der Stadt. Die Deutschen sind ausgezehrt und völlig erschöpft. Berlin ist eine unansehnliche Stadt – die Straßen sind eng, überall stehen Barrikaden, defekte Straßenbahnen, Autos, es sind kaum Menschen in den Häusern, alle sind in den Kellern.
Die Stimmung unter unseren Soldaten und Offizieren könnte nicht besser sein, wir sehen den Tag des Sieges schon vor uns.
Uns alle hier freut es, daß Ihr schon Getreide sät. Wie gerne würde ich zusammen mit Euch in unserem Garten die Kartoffeln, Tomaten, Gurken und Kürbisse setzen.
Auf Wiedersehen, ich küsse und umarme Euch
Euer Pjotr.
Der Rotarmist
Ilja Kritschewski *1907
Berlin
Den nächstfälligen Auftrag der Redaktion erhielten drei Mann, zwei Korrespondenten und ich, am 25. April, als die Kämpfe äußerst heftig wurden und sich unsere Soldaten um jedes Haus, ja um jede Etage schlagen mußten. Dies alles war anders als je zuvor, und wir spürten, daß auch uns besondere Anstrengungen bevorstanden.
Wir sollten zur 52. Gardedivision, wußten aber nur ungefähr, wo sie operierte. Auf der Suche nach dem gewünschten Regiment machten wir im Gebäude eines drittrangigen Kinos Station. Der Raum war überfüllt von Soldaten, die sich nach dem Kampf ausruhten. Auffallend war ihre Hochstimmung. Sie hatten noch tagelang angestrengte und gefahrvolle Gefechte mit dem Feind vor sich, aber alle schöpften Zuversicht aus dem Wissen, daß der Krieg nun endlich zu Ende ging.
In einer Ecke des Foyers tat sich etwas Merkwürdiges. An der Theke des ehemaligen Buffets stand ein bejahrter Deutscher und trieb schwungvollen Handel mit irgendwelcher Limonade. Aber der Stimmung nach war dieses Geschäft beiden Seiten recht.
Herzlich empfangen, mit Limonade bewirtet, beschlossen wir, Material über die Besten unter diesen Soldaten zu sammeln. Leider reichte mir die Zeit nur, um einen Kämpfer abzubilden, dabei gab es ringsum so viele
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