Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
bitten. Er hatte zehn Stück von Himmler bekommen, und als wir ihn nach dem Essen verließen, gab er uns persönlich je eine mit den Worten: «Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen zum Abschied kein schöneres Geschenk machen kann.»
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Der Bankdirektor
Friedrich Helms 1883–1955
Wilhelmshorst bei Potsdam
Mein Auge fällt auf den Gartenzaun eines Nachbars: Mit Erstaunen sehe ich dort, wie an einem langen Schaft eine weiße Fahne herausgesteckt wird. Noch will ich mich über diese eigentlich bei uns nie in Erwägung gezogene Maßnahme auslassen, als auch das Gerücht die Straße entlang eilt, russische Panzerwagen seien über den Bahndamm in den Ort gekommen und verhandelten dort wegen Übergabe des Ortes.
Die weiße Fahne heraus! Nein, dieser Gedanke war zunächst unfaßbar. Die allgemeine Starre löste sich bald in emsige Tätigkeit auf. An Häusern, aus Fenstern und Dachluken flatterte es bald weiß in den verschiedenen Formen. Hier war es ein Handtuch, dort eine Schürze an einem Spazierstock, ja, eine Kinderwindel erschien an einer Gartenpforte. Eine lange, halb polierte Gardinenstange, behängt mit einem einseitig zerrissenen Kopfkissenbezug, auf dem ich beim Nageln noch die Buchstaben M. T. las, war unser trauriges Zeichen der Kapitulation. [...] Ganze Straßenseiten zeigten Haus bei Haus das weiße Tuch der Übergabe – wenigstens des Ortes und, war es Einbildung oder Tatsache, fast schien es, als ob durch das Wehen dieser «Fahnen» zunächst ein voreiliges Aufatmen des einzelnen ging.
Die Künstlerin
Eva Richter-Fritzsche 1908–1986
Berlin-Pankow
Wir sind im Niemandsland. Abwechselnde Einfälle russischer und deutscher Soldaten bestimmen den aus allen Fugen gerissenen Alltag. Hier ist es der Einzelfall, der das Geschehen charakterisiert und die Meinungen bildet. Und seit gestern trennt sich unsere Welt hier klar und einschneidend – wenn uns auch im Hause noch alle gemeinsamen Wände verbinden.
Es gab ein paar Stunden am gestrigen Tag, welche alle menschlichen Beziehungen in grelles Licht setzten. Es war einer der längsten Tage meines Lebens, und wenn es der letzte gewesen wäre, dann wäre ich ohne Trost gestorben.
Margit Röhrich
Berlin
Um 12:00 Einzug der Russen! Die Schule wurde belegt, wir im Keller, Aufforderung des Russen – mit Maschinenpistole – nicht Folge geleistet, schoß nicht. Verkleidet, verstellt.
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Matthias Menzel
Berlin
Der Morgen kommt lange nicht. Als er da ist, steht der erste [Sowjet]- Soldat vor uns: ein blonder Junge von wohl siebzehn Jahren, im dicken Paletot, mit der ungefügen Pistole in der Hand, die Maschinenpistole über den Buckel gehängt. Er mustert die Uhren, mustert die Frauen, mustert die destillierten Wasserflaschen, die in der Ecke stehen. Ein erstes ungläubiges, fast verlegenes Lächeln huscht durch den Kellerraum, als er es nicht glauben will, daß die junge Malerin fünfunddreißig sei [...] Nun reißen die Besuche im Keller nicht mehr ab. Junge und Ältere gehen aus und ein, gerade Figuren und vierschrötige Gesellen, klare, vitale Gestalten und gesichtszerklüftete Mongolen. Sie kommen, wedeln mit der Pistole, fragen nach Waffen und Soldaten, suchen und gehen. Die Türen schließen wir nicht mehr. Die letzten Bomben dieses Krieges haben sie und die Fenster ohnedies aus den Angeln gehoben. Der Keller ist Schlaf-, Wohn- und Empfangsraum für die Vielen, die so Berlin betreten. Es sind die Krieger der ersten Linie. Ich muß an die deutschen Soldaten denken, an ihre Sieges- und Beutezüge ... Sind wir anders gewesen? Ist dies nicht nur eine andere Kategorie des Krieges der ersten Linie, geprägt von der rauhen Struktur des Ostens, gemeißelt von der weitläufigen Kraft der Steppe, gewachsen aus der Natur der größerenund weniger faßbaren Menschenmasse? Ein ungeheurer Zug der Schlachten prägt ihre Gesichter, ein Marsch von Tausenden von Kilometern, ein Marsch des Ingrimms, des Zorns, der Vergeltung. Ununterbrochen lösen sie einander ab: die Rauhen, Grimmigen und die mit dem Lächeln der Kinder. Die Sieger gehen durch die offenen Türen. Das ist das Urrecht des Krieges. Abends springen die Gerüchte von Haus zu Haus, daß die Frau angelächelt und gesucht wird, die Frau, gleich in welcher Gestalt. Und sie, die Frauen, jagen verängstigt über die Treppen, hüllen sich den Kopf mit Tüchern, verbergen sich, schwärzen Gesicht und Augen, wollen nicht schön sein. Alles Fremde, alles Plötzliche, alles Gewaltsame schreckt die Frau, die seit Jahren
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