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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Sowjets bis an die Elbe vorrücken, einschließlich Protektorat, dann werden die Amerikaner hier abhauen. Von England bleiben nur 20 bis 25 Divisionen zurück. Pazifistische und salonbolschewistische Propaganda wird bei den englischen Truppen einsetzen. Stalin wird sein Gebiet einschließlich des deutschen militarisieren. Er wird mit der Propaganda gegen die Westmächte kämpfen, weil sie die Städte zerstört haben. Er ist ein besserer Propagandist als die Engländer.
    Die Sowjets können auf allen Klavieren spielen. In kürzester Frist wird es hier zum Konflikt kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es kluge Engländer gibt, die das nicht sehen.
    *
    Ein SS-Mann
Berlin-Neukölln
    Wie im Manöver gingen unsere Männer vor, sprangen von Tür zu Tür und fielen über die roten Schützen her, die sich in den Etagen verborgen hielten. Die Panzer hinter ihnen spieen Feuer und Flammen und gaben der feindlichen Infanterie kaum Gelegenheit zu einem wirksamen Feuereinsatz. Unser Angriff gewann Boden, aber dann traf uns ein schwerer Schlag. Ein in Reserve gehaltener Zug traf am Rathaus Neukölln ein, wähnte sich in Sicherheit und blieb in Marschordnung auf der Straße stehen. Im gleichen Augenblick schlug eine ganze Salve russischer Panzerabwehrgranaten genau an dieser Straßenecke ein. Erschüttert zählte ich kurz darauf die Leichen von fünfzehn jungen Soldaten auf dem blutbespritzten Asphalt.
    Rechts und links von uns war die Lage zunehmend verwirrender. Während wir den zurückeroberten Bereich von Russen säuberten, hätten wir eigentlich auf die Flanken benachbarter Verbände stoßen müssen. Statt dessen waren auf allen Seiten Russen.
    Schließlich erreichte uns ein eigentümlicher Befehl der Division: Wenn der Angriff noch nicht begonnen hat, abbrechen und neue Befehle abwarten.Andernfalls tun Sie Ihr Bestes. Also hätten wir uns drei Stunden nach einem gelungenen Angriff zurückziehen sollen. In Wirklichkeit war aber weder rechts noch links noch hinter uns irgendeine eigene Front übrig. Ich fragte mich also, was nun zu tun sei, und beschloß, auf jeden Fall erst einmal zu halten, dabei aber besonders darauf zu achten, daß wir nicht abgeschnitten würden. Das Rathaus wurde so zum Zentrum des Widerstands, und eine Gruppe Hitlerjugend wurde als Verstärkung entsandt.
    Ein Arzt
Berlin-Neukölln/Kriegsgefangenenlazarett
    Ich verbrachte geraume Zeit auf meinem Beobachtungsposten am Fenster. Auf der Straße sah ich Frauen mit Einkaufsnetzen, Soldaten, die sich in voller Deckung an den Gebäuden entlang bewegten, gepanzerte Fahrzeuge und Kräder fuhren vorbei. Die 88-mm-Kanone in der Weichselstraße feuerte ununterbrochen. Kein deutsches Flugzeug war zu sehen, nur russische Maschinen. Die leichte Flak vom Flughafen Tempelhof war zu hören. Zur Rechten verbarg eine Rauchwolke die beiden 80m hohen Türme des Warenhauses «Karstadt», die das Viertel überragten.
    Die Kämpfe rückten näher, vor allem von der linken Seite war das Rattern der Maschinengewehre zu vernehmen. Der russische Angriff schien aus zwei Richtungen zu erfolgen, in gerader Linie längs des Kanals Richtung Tempelhof und den Ring entlang zum Hermannplatz. Zahlreiche kleinere Einheiten zogen am Lazarett vorbei in Richtung Stadtmitte, Zeichen eines bevorstehenden deutschen Zusammenbruchs.
    Wir hofften auf ein baldiges Ende der Kämpfe, denn unsere Schwierigkeiten stiegen von Stunde zu Stunde. 300 kranke Kriegsgefangene mußten versorgt werden, die Wasservorräte gingen zu Ende, womit sollten wir kochen? Im Keller herrschte fast völlige Dunkelheit, die Lage der Schwerkranken war besonders schlimm, sie lagen dicht gedrängt auf Bahren oder dünnen Matratzen auf dem Boden. Die medizinische Versorgung und selbst einfachste Hygiene war fast unmöglich. Die Enge wurde noch gesteigert durch viele deutsche Verwundete, die nach der ersten Versorgung nicht in der Lage waren, das Lazarett zu verlassen. Der Operationssaal hatte schon lange verlegt werden müssen, und wir behalfen uns mit der ehemaligen Garderobe, wo wir Amputationen auf einem alten Holztisch mit einer Matratze darauf durchführten. Die Ärzte arbeiteten ohne Handschuhe, Antisepsis war nahezu unmöglich, die Instrumente nicht ausreichend sterilisiert. Operationskittel konnten nicht mehr gewechselt werden, Händewaschen wurde zum Problem. Die Petroleumlampenwaren leer und die letzten Kerzen verbraucht. Glücklicherweise hatten wir zwei Fahrräder mit Dynamo aufgetrieben, ihre beiden Lampen, die

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