Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
großartige Gesichter. Alle Anwesenden schauten zu, und ich hätte zu gern weitergemacht, aber über uns hing der Auftrag der Redaktion. So nahmen wir Abschied und zogen weiter durch die endlosen, von Abschüssen und Einschlägen widerhallenden Straßen Berlins. [...]
Der letzte bewußte Eindruck fixierte in meinem Gedächtnis ein unwahrscheinliches Krachen, einen blendenden Feuerball und einen dumpfen Schlag gegen den Kopf.
Als ich wieder zu mir kam und mühsam die schmutzverklebten Augen aufschlug, versuchte ich zu begreifen, was mit mir passiert war. Besonders stark dröhnte es in der rechten Kopfhälfte, als ob daneben eine Glocke läutete. Ich wollte aufstehen, spürte aber überall Schmerzen, ein Gefühl, als würde ich durch den Fleischwolf gedreht. [...]
Leider besaß ich keine Uhr, und so konnte ich nicht feststellen, wieviel Zeit verstrichen war. Ich machte mir Sorgen um meine Genossen. Mir blieb nur eins übrig, den Regimentsstab zu suchen; hoffentlich ließen sich dort ihre Spuren finden. Mit Hilfe eines Soldaten erreichte ich die richtige Stelle, sie lag in einer Parallelstraße. Dieses Wegstück überwand ich mit großer Mühe. Im Kopf drehte sich alles, die Beine versagten. [...]
Erst Tage darauf fand ich mit Hilfe des Redakteurs der Divisionszeitung zur Redaktion zurück. Dort kam mein Auftauchen unerwartet. Meine Begleiter, die lebendig und unversehrt waren, hatten mich nämlich als tot gemeldet.
In jenen historischen Tagen tat jeder von uns, was er nur konnte, es war nicht die Zeit, an eigenes Unwohlsein zu denken, und einen Tag später streifte ich wieder durch die brennenden Straßen von Berlin, die Zeichenmappe, wie immer, auf dem Rücken.
Erna Saenger *1876
Berlin
Addis Geburtstag – wo ist sie? Und mein Bub, wo bist du? Sie schießen die ganze Nacht! Was ist stromlos, gaslos, wasserlos-Sein gegen diesen Ansturm auf Heimat und Vaterland? Zur Morgenwache kam ich nicht mehr durch – die Kugeln fliegen – die Infanterie schießt. «Wir stehn in unseres Herren Hand und woll’n drin stehen bleiben ...»
Lagebesprechung
Berlin/Führerbunker
Hitler: Wenn wir so schmachvoll von der Weltbühne abtreten würden, dann haben wir zwecklos gelebt. Ob man das Leben noch eine Zeitlang fortführt oder nicht, ist völlig gleichgültig. Lieber den Kampf ehrenvoll beenden, als in Schande und Unehre ein paar Monate oder Jahre weiterleben.
*
Friedhöfe der
St. Georgen-Parochialgemeinde
Berlin-Prenzlauer Berg
Name: Frika N.
Tag der Geburt: 4. 9. 1923
Stand: Ehefrau
Tag des Todes: 25. 4. 1945
Bemerkungen: Freitod
Name: Heinz N.
Tag der Geburt: 26. 12. 1913 Stand: Stadtinspektor
Tag des Todes: 25. 4. 1945 Bemerkungen: Freitod
Name: Johannes H.
Tag der Geburt: 3. 1. 1891
Stand: Bankvorsteher
Tag des Todes: 26. 4. 1945
Bemerkungen: Selbstmord durch Erschießen
Name: Gertrud H.
Tag der Geburt: 18. 1. 1897
Stand: Ehefrau
Tag des Todes: 26. 4. 1945
Bemerkungen: Selbstmord durch Erschießen
Name: Gisela H.
Tag der Geburt: 17. 11. 1923
Stand: Kontoristin
Tag des Todes: 26. 4. 1945
Bemerkungen: Selbstmord durch Erschießen
Name: Nikolaus v. R.
Tag der Geburt: 15. 4. 1889
Stand: Dolmetscher
Tag des Todes: 26. 4. 1945
Bemerkungen: Selbstmord
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Die Sekretärin Traudl Junge 1920–2002
Berlin/Führerbunker
[Frau Goebbels] hatte kaum mehr die Kraft, ihren Kindern gelassen gegenüberzutreten. Jedes Zusammensein mit ihnen bedeutete ihr eine so ungeheure Belastung, dass sie hinterher in Tränen ausbrach. Auch sie und ihr Mann waren nur noch Schatten und schon dem Tod geweiht. [...] Als ich an der Tür des Kinderzimmers vorbeiging, hörte ich die sechs klaren Kinderstimmen singen. Ich trat ein, da saßen sie in drei zweistöckigen Betten und hielten sich die Ohren zu, damit sie sich bei dem dreistimmigen Gesang nicht gegenseitig rausbrachten. Dann wünschten sie einander fröhlich «gute Nacht» und schliefen schließlich ein. Nur die Größte, Helga, hatte manchmal einen traurigen wissenden Ausdruck in den großen braunen Augen. Sie war die Stillste, und manchmal denke ich mit Grauen daran, dass diese Kinderseele in der tiefsten Tiefe das Heucheln der Erwachsenen fühlte. [...]
Noch immer saßen wir mit Hitler bei den Mahlzeiten beisammen. Nur Eva Braun, Frau Christian, Fraulein Manziarly und ich. Es gibt jetzt kein Thema mehr, das interessant genug gewesen wäre, um darüber zu sprechen. Ich höre meine Stimme wie die einer Fremden. «Glauben Sie, mein Führer, dass
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