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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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der Nationalsozialismus wiederkommen wird?», fragte ich. «Nein. Der Nationalsozialismus ist tot. Vielleicht wird in hundert Jahren einmal eine ähnliche Idee entstehen, mit der Kraft einer Religion, die über die ganze Welt geht. Aber Deutschland ist verloren. Es war wohl nicht reif genug und nicht stark genug für die Aufgabe, die ich ihm zugedacht hatte», sagte der Führer über uns hinweg wie zu sich selbst. Ich verstand ihn nicht mehr. [...]
    Drüben in den Bunkerräumen der Neuen Reichskanzlei war ein heilloses Durcheinander. Dort wohnten die Offiziere von Below, Fegelein, Burgdorf, Krebs, Hewel und Flugkapitän Baur und Oberführer Rattenhuber, die sich nach ihrer bayerischen Heimat sehnten. Die beiden waren außer mir die einzigen, die aus München stammten. Dann war da noch Admiral Voss, einige unbekannte Stabsoffiziere und Heinz Lorenz von der Presse. Irgendwo hatte auch Bormann mit seinem Mitarbeitersein Quartier. In den langen Gängen hausten erschöpfte Soldaten von Volkssturm und Wehrmacht. Eine Feldküche versorgte sie mit warmen Getränken und Suppen. Überall lagen schlafende Gestalten auf dem Boden, dazwischen rannten hilfsbereite Frauen, Flüchtlinge, Mädchen und Krankenschwestern, Angestellte der Reichskanzlei herum, die zupackten, wo es nötig war. In einem der großen Räume war notdürftig ein Operationssaal eingerichtet worden. Oberarzt Haase, der drüben in der Charité ausgebombt worden war, arbeitete Tag und Nacht, amputierte, operierte, verband und half, wo er konnte. Die Betten, die überall, wo es möglich war, aufgestellt wurden, reichten nicht mehr aus. Bald gab es keine Hemden, keine Wäsche mehr für die Verwundeten. [...]
    Der lange Gang, der unter der Erde von der Reichskanzlei hinüberführte zum Führerbunker, war schon an vielen Stellen zerschossen, die dünne Decke eingestürzt. Hitler wünschte, dass Frau Christian und ich auch nachts in seiner Nähe waren. Ein paar Matratzen wurden auf dem Boden des kleinen Konferenzzimmers ausgebreitet, wir schliefen ein paar Stunden in unseren Kleidern und draußen vor der halbgeöffneten Tür lagen die Offiziere Krebs, Burgdorf, Bormann usw. in Sesseln, schnarchten und erwarteten die Armee Wenck! Stattdessen ging über uns die Hölle los. Die Beschießung erreichte am 25./26. April ihren Höhepunkt; pausenlos krachten die Schüsse, und jeder einzelne schien direkt auf unseren Bunker gezielt zu sein. [...]
    Es wurde überall und viel geraucht, ganz gleich ob der Führer dabei war oder nicht. Die dicken Rauchschwaden störten ihn nicht mehr und Eva Braun verbarg ihr «Laster» nicht länger. Manchmal kam ein abgekämpfter Berichterstatter von der Front. Die Hauptkampflinie schob sich immer mehr gegen den Anhalter Bahnhof vor. Jetzt waren es schon die Berliner Frauen und Kinder, deren Schreie wir zu hören glaubten, wenn wir hinaufstiegen und hinausblickten in Flammen und Rauch. Wir hörten, dass deutsche Frauen von russischen Panzern als Kugelfang missbraucht wurden, und wir sahen wieder nur als einzigen Ausweg den Tod.
    Wenn ich heute daran denke, mit welcher Ausschließlichkeit und zermürbenden Genauigkeit ständig und überall von der besten Möglichkeit zu sterben gesprochen wurde, dann verstehe ich selbst nicht mehr, dass ich noch lebe. [...] «Ich will weder tot noch lebendig in die Hand der Feinde fallen. Wenn ich tot bin, soll meine Leiche verbrannt werden und unauffindbar bleiben für alle Zeiten», bestimmte Hitler. Und während wir mechanisch unsere Mahlzeiten nahmen, ohne zu merken,was wir aßen, sprachen wir davon, wie man gründlich und sicher sterben könnte. «Am besten ist es, sich in den Mund zu schießen. Dann platzt der Schädel, man merkt überhaupt nichts. Der Tod tritt sofort ein», erklärte uns Hitler. Aber uns Frauen graute bei diesem Gedanken. «Ich will eine schöne Leiche sein», sagte Eva Braun, «ich nehme Gift.» Und sie zog aus der Tasche ihres eleganten Kleides eine kleine Messingkapsel mit einer Phiole Zyankali. «Ob es sehr wehtut? Ich habe solche Angst davor, lange leiden zu müssen», gestand sie. «Und wenn ich schon bereit bin, heldenhaft zu sterben, so soll es wenigstens schmerzlos geschehen.» Hitler erklärte uns, dass der Tod durch dieses Gift völlig schmerzlos sei. Durch eine Lähmung des Nerven- und Atmungssystems würde der Tod innerhalb weniger Sekunden eintreten. Und dieses «tröstliche» Bewusstsein veranlasste Frau Christian und mich, den Führer ebenfalls um eine solche Ampulle zu

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