Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
einer Veränderung in unserer Ampel-Schaltzentrale und nicht in »Maßlosigkeit« oder bewusstem »Verzicht«. Erst wenn wir die Rolle des Gehirns als Verbraucher Nummer eins und Regulator Nummer eins im menschlichen Energiestoffwechsel verstehen, können wir Therapien entwickeln, die nicht nur die Symptome behandeln, sondern endlich die Ursachen von Übergewicht und Diabetes bekämpfen. Und wir können uns von der Idee verabschieden, dass wir nur streng genug Diät halten müssen, um dauerhaft abzunehmen. Dabei wird es auch um die Fragen gehen, inwieweit unser Gefühlsleben und unser Umgang mit Stress mit dem Stoffwechsel von Gehirn und Körper zusammenhängen.
Energie auf Bestellung – eine Tasse Zucker täglich
Die Studien von Marie Krieger waren der erste Beleg dafür, dass sich unser Stoffwechsel in Notzeiten zugunsten des Gehirns radikalisiert. Mit anderen Worten: Der Kampf um Nahrung, den der hungernde Mensch gegen die Natur oder andere Menschen führt, vollzieht sich spiegelbildlich auch in seinem Inneren. Gekämpft wird dabei um den wichtigsten Rohstoff des Körpers: Zucker. Diese Kohlenhydratverbindung zirkuliert in den Blutbahnen in Form von Glukose, dem begehrtesten Energieträger des Stoffwechsels. Unter normalen Umständen nimmt ein Mensch pro Tag 200 Gramm Glukose zu sich. Dass unser Gehirn ein egoistischer Herrscher ist, der sich selbst zuerst bedient, wissen wir bereits. Man kann also vermuten, dass das Gehirn gerade beim Zucker den Löwenanteil für sich fordert. Aber wie groß ist dieser Teil, was gelangt noch in die anderen Organe?
Bereits in den 1940er Jahren entwickelten die amerikanischen Neurowissenschaftler Seymour Kety und Carl Schmidt ein Verfahren, durch das sie wichtige Einblicke in den Hirnstoffwechsel erhielten. Dazu legten sie Probanden einen Katheter in die Armarterien, um den Blutglukosegehalt vor der Passage durchs Gehirn zu bestimmen. Weitere Katheter wurden in beide großen Halsgefäße bis auf Höhe der Ohren eingeführt – eine Messstation, die das abfließende Blut nach seinem Weg durchs Gehirn passieren musste. Aus der Messung des Glukosegehalts im zu- und abfließenden Blut ergibt sich eine genaue Analyse der Glukoseausbeute des Gehirns. Allerdings birgt dieses Verfahren Verletzungsrisiken für die Versuchsperson und wird daher heute nur noch in Ausnahmefällen angewendet. Doch bereits in den 1950er und 1960er Jahren wurde auf der Grundlage der Kety-Schmidt-Methode ermittelt, wie viel Glukose in 24 Stunden im Blut umgesetzt und wie viel davon im Gehirn verbrannt wird. Die Ergebnisse beider Untersuchungsreihen waren verblüffend: Von den 200 Gramm Glukose, die ein Mensch täglich zu sich nimmt, beansprucht das Gehirn allein 130 Gramm für sich – das entspricht in etwa der gleichen Menge Haushaltszucker (das ist so viel, wie in eine nicht ganz randvoll gefüllte Kaffeetasse passt). Eine solche Tasse Zucker wird jeden Tag in unser Gehirn transportiert und dort verbrannt, damit wir denken, fühlen, entscheiden, träumen und unseren Körper kontrollieren können.
Aber wie kommt es, dass das Gehirn diesen hochenergetischen Stoff fast ausschließlich für sich beanspruchen kann? Was ist mit den Muskeln und anderen verbrennungsintensiven Organsystemen? Warum rebellieren sie nicht gegen diese »ungerechte« Energieverteilung? Auf der Suche nach einer Erklärung für dieses Phänomen konzentrierte sich die Forschung zunächst auf die Frage, wie die Energiebeschaffung bei Neuronen, den einzelnen Nervenzellen des Gehirns, abläuft.
Jede einzelne Nervenzelle kümmert sich selbst um die Logistik der eigenen Versorgung. Neuronen beziehen ihre Energie von sogenannten Astrozyten, das sind Zellen, die gewissermaßen wie Tankstellen im Hirngewebe funktionieren. Mit ihren sternförmigen Ausstülpungen docken sie auf der einen Seite an den Nervenzellen an, auf der gegenüberliegenden an den Kapillaren. Diese kleinsten Blutgefäße unseres Körpers transportieren den Kraftstoff Blut bis zur Zelle. Sowohl an den Kapillar- als auch an den Astrozytenwänden befinden sich Transportvorrichtungen, die Glukosemoleküle aufnehmen und weiterreichen können. Zunächst nahm man an, dass diese Glukosetransporter einfache Verbindungsporen von der Art starrer Röhren seien, durch die Glukose aus dem Blut hindurchgedrückt würde. Das hätte bedeutet, dass Nervenzellen passiv mit Zucker versorgt werden: Je mehr im Blut angeboten wird, desto mehr wird in die Zellen gedrückt.
Tatsächlich agiert das
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