Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Schlüsselmechanismus des Hirnenergiestoffwechsels gefunden und nachgewiesen, dass Nervenzellen Energie beim Körper »bestellen«. Im gleichen Jahr hatte Jeffrey Friedman das Leptin (vom griechischen leptos = schlank) entdeckt, einen körpereigenen Botenstoff, der dem Hirn den Energiefüllstand im Fett- und Muskelgewebe übermittelt. David Spanswick lieferte drei Jahre später den letzten missing link . Er fand ihn im ventromedialen Hypothalamus, einer Region im oberen Hirnstamm, in der Stoffwechselvorgänge des Körpers reguliert werden. Hier laufen die Informationen über die Energieflüsse im Blut zusammen. Hier werden die Energiefüllstände im Gehirn sowie im Fett- und Muskelgewebe registriert und verglichen; und von hier werden die Glukoseströme gelenkt. Der Ampelschalter im Gehirn war gefunden!
Jetzt musste man die Studien nur noch in einen Zusammenhang stellen. Interessanterweise war genau dies bisher nicht geschehen. Pellerin, Friedman und Spanswick kannten die Forschungen der jeweils anderen zu wenig. Aber wenn man diese hervorragenden Arbeiten aus den Gebieten des Körper- und Hirnstoffwechsels wie bei einem Puzzle zusammenfügte, würde ein völlig neues Bild Konturen annehmen. Das Ergebnis war die Selfish-Brain-Theorie, die erklärt, wie das Gehirn selbstbestimmt seine Energieversorgung sichert und dabei in Krisenzeiten alle anderen Organe in die zweite Reihe verweist.
1998 formulierte ich die Selfish-Brain-Theorie in Lübeck, 2004 wurde sie publiziert. Wie die Golden-Gate-Brücke in San Francisco ruht die Theorie auf zwei fundamentalen Grundpfeilern:
Das Gehirn reguliert zuerst seinen eigenen Energiefüllstand. Dazu aktiviert es sein Stresssystem, das die Energie aus den Körperreserven ins Gehirn leitet (die Ampel zeigt Grün Richtung Gehirn).
Anschließend kehrt das Stresssystem wieder zurück in seine Ruhelage. Jetzt erfolgt die Nahrungsaufnahme, um die Körperreserven wieder aufzufüllen (die Ampel zeigt Grün Richtung Körper).
Die Selfish-Brain-Theorie wurde inzwischen anhand von mehr als 10 000 Studien aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen geprüft und findet sich mit diesen im Einklang. Sie wurde auf »Plausibilität« getestet, in zahlreichen persönlichen Gesprächen und auf zwei internationalen Selfish-Brain-Konferenzen mit ausgewählten Experten der Bereiche Neuroenergetik, Stressforschung, Adipositas, Diabetes, Schlaf und Gedächtnis. 2004 rief die Deutsche Forschungsgemeinschaft an der Universität zu Lübeck die Klinische Forschergruppe »Selfish Brain: Gehirnglukose und Metabolisches Syndrom« ins Leben. In diesem Team forschen seitdem unter meiner Leitung 36 Wissenschaftler und fünfzig Doktoranden aus den Disziplinen Hirnforschung, Innere Medizin, Diabetologie, Psychiatrie, Psychologie, Neuroendokrinologie, Pharmakologie, Ökotrophologie, Biochemie, Chemie und Mathematik zum gleichen Thema: zur Selbstsucht des Gehirns.
Wie wir später noch sehen werden, ist der Egoismus des Gehirns aber kein reiner Selbstzweck, sondern verschafft uns evolutionäre Vorteile. Der prähistorische Mensch war ständig von Nahrungsknappheit und Gefahren aus der Umwelt bedroht – ein Problem, das noch weit bis in die Neuzeit reichte. Um darauf adäquat reagieren zu können, war es vor allem wichtig, dass das Gehirn funktionierte. Die Wahrnehmung musste geschärft sein, man musste in Situationen der Gefahr die richtige Entscheidung treffen und wissen, wo man in Zeiten des Mangels Nahrung finden konnte. Also hieß die Devise: Alle Energie in die Schaltzentrale! Diese Mechanismen, die uns damals in Zeiten der Nahrungsknappheit eine gute Hirnleistung garantiert haben, wirken in uns noch heute. Wenn sie reibungslos funktionieren, ermöglichen sie uns, trotz des Nahrungsüberangebots schlank zu bleiben. Tritt allerdings eine Störung auf, dann – und nur dann – werden wir dick.
Dieses Thema ist natürlich aus wissenschaftlicher Sicht hochspannend – vor allem aber ist es für jeden Einzelnen von uns von großer Bedeutung. Denn es zeigt, wie groß der Einfluss unseres Gehirns auf unseren gesamten Stoffwechsel ist. Wenn die Ampelschaltung funktioniert, können wir vom Egoismus des Gehirns profitieren, denn er sichert in schlechten Zeiten unser Überleben und hält uns in guten Zeiten schlank. Wenn das System aber aus dem Tritt kommt, hat das gravierende Folgen. Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Magersucht und Bulimie, die vermeintlichen Zivilisationskrankheiten unserer Zeit, haben ihren Ursprung in
Weitere Kostenlose Bücher