Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Krisensituation besteht, arbeiten die Kräfte in etwa auf Augenhöhe. Der Brain-Pull ist dann sozusagen ein primus inter pares , ein Erster unter Gleichen. In Zeiten einer Versorgungskrise aber wird der Brain-Pull so etwas wie der »Master-Pull«. Er übernimmt in kritischen Situationen – etwa bei einem verhungernden Menschen – die höchste Kontrolle. Die Gewichtung der beiden anderen Pulls ist in diesem Fall nicht festgeschrieben, sondern fließend und veränderbar. Sie reagieren auf Informationen und Impulse von der übergeordneten Brain-Pull-Ebene. Hier wird nicht nur die gesamte Lieferkette überwacht, hier wird bei Störfällen Ausgleich geschaffen, und hier werden Vorkehrungen für Engpässe oder Überlastungen getroffen. Der Brain-Pull verfügt in solchen Fällen über die Strategie, notfalls sogar seine eigene Kraft zurückzufahren und die Energiebeschaffung an die nächste Station in der Lieferkette zu delegieren, an den Body-Pull. Im Falle einer eigenen Leistungsschwäche kann er auch vom Body-Pull Hilfe und Unterstützung anfordern.
Ausschlaggebend für die Kontrolle und den Einsatz der jeweiligen Pulls sind Informationen, die in den Gehirnhemisphären oder -hälften abgespeichert sind. Diese Informationen kennen wir unter dem Begriff »Erinnerungen«. Erfahrungen, Gefühle, persönliche Erlebnisse, Gelerntes – all das sind Erinnerungen, die in verschiedenen Bereichen der Hirnrinde als Gedächtnisinhalte verschlüsselt sind. Konkret können dies Geschmackserinnerungen sein, Gerüche, Gefühle oder Erinnerungen an Namen oder an Orte, an denen wir bei der Nahrungssuche erfolgreich waren. Bei unseren urzeitlichen Vorfahren handelte es sich dabei vielleicht um einen besonders pilzreichen Wald oder ein gutes Jagdrevier. In unserer heutigen Welt kann das ein Wochenmarkt mit seinen bunten Auslagen an frischem Obst und Gemüse sein oder das neonleuchtende Banner eines Fast-Food-Restaurants, das auf einer nächtlichen Autofahrt eine Erinnerung an schnell verfügbare Nahrung weckt. Aber auch belastende, angstbeladene Erinnerungen können das Wechselspiel der Pull-Kräfte beeinflussen. Das ist ja ein Hauptmerkmal unseres Stresssystems. Jeder kennt das Gefühl, wenn uns bei einer belastenden Erinnerung plötzlich das Adrenalin ins Blut schießt, das Herz zu rasen beginnt und der kalte Schweiß ausbricht. Ein anderes Mal steigen schöne, emotional positiv besetzte Episoden aus unserer Vergangenheit aus den Tiefen unseres Gedächtnisses auf. Sie lösen in uns naturgemäß keine Stressreaktion aus, schlagen aber dennoch die gleiche Saite im Gehirn an. So erklärt sich zum Beispiel, warum die Duft- und Geschmacksempfindung einer kleinen Madeleine eine glückliche Kindheitserinnerung wachrufen kann. Der französische Dichter Marcel Proust setzte diesem Gebäck in einem Kapitel seiner Suche nach der verlorenen Zeit ein literarisches Denkmal und signierte mit ihm sein monumentales Romanwerk (» P etite M adeleine« sind die verkehrten Initialen des Autors). Die moderne Neurowissenschaft bezeichnet diese von Proust vor knapp hundert Jahren mit höchster Genauigkeit beschriebene Form der emotionalen Erinnerung inzwischen als das »Proust-Phänomen«.
Die Erinnerungen, die wir mit Obstständen, Werbebotschaften oder bestimmten Kindheitserlebnissen verbinden, ha-
ben also einen direkten Einfluss auf die Funktionsweise der Pulls unseres Gehirns. Denn die gleichen Nervenzellverbände im sogenannten Mandelkern (Amygdala), die unser emotionales Gedächtnis kodieren, also Erinnerungen verarbeiten und sichern, sind es auch, die den Brain-Pull auf höchster Ebene aktivieren und massiv Informationen zum Hirnstamm und zu drei Pull-Zentren senden. Im Grunde werden die Pulls ständig mit neuem Wissen versorgt. Jede dieser Informationen kann zu Veränderungen in ihrem Aktivitätsmuster führen. Mit anderen Worten: Die Regulierungseinheiten der Lieferkette in unserem Kopf sind lernfähig und optimieren sich grundsätzlich selbst. Aber die Lernprozesse, denen wir sie tagtäglich unterwerfen, können unser ganzes Leben verändern – zum Guten oder zum Schlechteren.
Wie das egoistische Gehirn geboren wird
Das egoistische Gehirn könnte in der Lage gewesen sein, Menschheitsgeschichte zu schreiben, indem es dem modernen Homo sapiens zum Siegeszug verhalf. Aber wann übernimmt das Gehirn die Federführung in unserer ganz persönlichen Geschichte? Wann erwirbt es seine hierarchische Sonderstellung im Stoffwechsel?
Das egoistische
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