Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
aktiviert dann seinen Brain-Pull und stößt einen stummen Schrei aus. Dieser biochemische Ruf nach Energie ist für den Stoffwechsel der Mutter unmöglich zu ignorieren. Es ist das Stresshormon Kortisol, welches das Kind aus seiner Nebenniere freisetzt, um die Mutter spüren zu lassen, dass ihm Energie fehlt. Das Kortisol macht sich bemerkbar, indem es Einfluss auf das Stresssystem der Mutter nimmt – allerdings nicht auf direktem Weg. Wie so oft in der Physiologie ist die Sache etwas komplizierter.
In der Plazenta, der Versorgungsstation, die Mutter und Kind verbindet, besteht eine Kortisolbarriere. Eine Art Kontrolleinrichtung, die verhindern soll, dass Kortisolbotschaften ungehemmt passieren können. Die Kortisolnachricht des Kindes kann das Gehirn der Mutter auf direktem Weg also nicht erreichen. Dazu bedarf es eines Übersetzers, eines vermittelnden Botenstoffes, der die kindliche und mütterliche Kortisolfreisetzung parallel verknüpft. Dieser Mittlerstoff wird in der Plazenta gebildet, die nicht nur eine Energiebörse ist, sondern gleichzeitig das Kommunikationszentrum, das biochemische Informationen zwischen Mutter und Kind synchronisiert. Wenn nun das kindliche Gehirn Energiebedarf hat, setzt der Fötus aus seinen Nebennieren Kortisol frei. Die Plazenta reagiert auf dieses fetale Kortisol, indem sie vermehrt den Botenstoff CRH (Corticotropin releasing hormone) bildet. Das CRH gelangt in den Kreislauf der Mutter und bewirkt bei ihr, dass auch ihre Nebennieren Kortisol freisetzen. Dieses mütterliche Kortisol ist nicht nur das letzte und entscheidende Glied der Informationskette, die vom Gehirn des Fötus zum Gehirn der Mutter führt. Es sorgt auch dafür, dass der eigene Brain-Pull der Mutter unterdrückt wird. Um in dieser angespannten Lage die ausreichende Versorgung ihres eigenen Gehirns sicherzustellen, muss sie ihren Body-Pull verstärken. Den daraus resultierenden starken Hunger kennt jede schwangere Frau. Von der reichlich aufgenommenen Energie profitiert letztlich auch der anfordernde Fötus, dessen freigesetztes Kortisol erst den Brain-Pull der Mutter gehemmt hat.
Machtkampf im Mutterbauch
Immer wenn auf Kortisolebene ein neuer Spieler hinzukommt, verändert das die Lage – im Mutterleib durch den Fötus, beim Erwachsenen durch die Gabe von künstlichem Kortisol, besser bekannt als Kortison. Zur Veranschaulichung des Funktionsprinzips von Kortisol soll ein Gleichnis dienen: Ein Vater (das Gehirn) trägt seinem Sohn (er steht für das Stresssystem) auf, die Blumen zu gießen. Der Vater kontrolliert anschließend, ob der Junge seine Arbeit auch tatsächlich gut gemacht hat, indem er mit dem Finger fühlt, wie feucht die Blumenerde ist (feuchte Blumenerde = Kortisol). Denn auch das Gehirn prüft nach, ob das von ihm aktivierte Stresssystem seine Arbeit gut gemacht hat, indem es misst, wie viel Kortisol im Hypothalamus angekommen ist.
Zurück zum Gleichnis. Die ältere Schwester (der Kortison gebende Arzt) schaltet sich ohne Wissen des Vaters ein und nimmt dem Bruder das Gießen ab. Der Vater fühlt wieder die feuchte Erde und teilt seinem Sohn mit, er habe genug gegossen. Der wird also von seinem Auftrag abgezogen, ohne ihn überhaupt ausgeführt zu haben. Ganz ähnlich verläuft der Vorgang auch im Gehirn, wenn Kortison als Medikament von außen zugeführt wird. Das Gehirn kann das fremde Kortisol nicht vom körpereigenen unterscheiden und weist das Stresssystem an, seine Aktivität komplett einzustellen; das bedeutet noch weniger Aktivität des Stresssystems als in seiner Ruhelage.
Es gibt weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem Kortisolhaushalt im Körper und dem Gleichnis mit den Blumen gießenden Geschwistern. Den Blumen ist es letztlich gleichgültig, wer sie mit Wasser versorgt – Hauptsache, sie werden regelmäßig gegossen. Ähnlich ergeht es dem Körper. Anders sieht es mit Vater und Sohn aus – hier wird die Kommunikation entschieden gestört. Der Sohn stellt seine Arbeit ein. Auch im Gehirn hat die neue Botschaft des äußeren Kortisons Konsequenzen: Sie sorgt dafür, dass das Stresssystem gedämpft wird. Wir sehen also, dass es einen entscheidenden Unterschied ausmacht, ob Kortisol durch einen Befehl von innen oder durch eine Gabe von außen erhöht ist: Inneres Kortisol zeigt eine hohe Aktivität des Stresssystems an, äußeres Kortison bremst hingegen dessen Aktivität.
Ganz ähnlich verhält es sich bei der Mutter und ihrem Fötus. Wie künstliches Kortison fährt auch das
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