Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
und zu versenden, bedient sich das Gehirn seiner mächtigsten Trumpfkarte: des Stresssystems. Stresshormone und die Botenstoffe des sympathischen Nervensystems sind die Kanban-Karten des Gehirns. Wenn ATP knapp wird, sendet der VMH sehr frühzeitig einen Befehl über seine absteigenden Stressnervenbahnen an die Bauchspeicheldrüse: »Insulinausschüttung drosseln!« Durch die so verminderte Insulinkonzentration im Blut kommt es dazu, dass Muskeln und Fett jetzt keine Glukose aufnehmen können. Denn Insulin ist der Schlüssel, um die Speicher aufzuschließen (Insulindrosselung hingegen verschließt die Speicher). Das Gehirn aber kann seine Energie auch ohne Insulin aufnehmen, es ist schließlich unabhängig davon. Mit diesem Kunstgriff schneidet es die Speicherorgane vorübergehend vom Energienachschub ab und sichert sich den Großteil der angelieferten Glukose.
Dieser Vorgang, der Brain-Pull, ist der entscheidende Schritt der Energiebeschaffung des Gehirns. Wenn aber im Blut nicht genügend Glukose zirkuliert, müssen entsprechende Gegenmaßnahmen getroffen werden. Sinkt der Blutzucker und die Körperdepots wie Muskulatur, Fettspeicher und Leber haben sich bereits entleert, sorgt die Lieferkette in einem zweiten Schritt dafür, dass Nachschub von außerhalb erfolgt. Auch hier werden die Pull-Signale im oberen Hirnstamm verarbeitet, genauer im lateralen Hypothalamus ( LH ). Die Signale kennen wir: Wir verspüren Appetit, Heißhunger und durchlaufen je nach Dauer des Versorgungsengpasses alle Stadien des Hungers. Diese Kraft ist der Body-Pull: Der Körper zieht sich entsprechend seinem Füllstand Energie – durch Essen.
Abbildung 1
Die Lieferkette des Gehirns.
Die Energie gelangt aus der Umwelt in den Körper und von dort aus ins Gehirn. Es gibt eine Abzweigung in die Speicherdepots, also ins Muskel- und Fettgewebe. Hat das Gehirn Bedarf, so fordert es Glukose aus dem Körper an. Diese anfordernde Kraft nennt man Brain-Pull. Laufen die Energiereserven im Körper (Blut, Depots) leer, so wird Nahrung aus der Umwelt angefordert: Das heißt, wir essen. Diese Kraft heißt Body-Pull. Wenn der Tisch und der Kühlschrank leer sind, holen wir Nachschub aus der entfernteren Umgebung; wir kaufen beispielsweise auf dem Markt ein. Diese Kraft, die uns zur Nahrungsbeschaffung antreibt, nennt man Such-Pull. Der Anteil des Energieflusses, der vom Anbieter bestimmt wird, heißt Push-Anteil (weißer Teil der Pfeile); der Anteil, der vom Empfänger bestimmt wird, heißt Pull-Anteil (schwarzer Teil der Pfeile).
Angenommen, Küche und Kühlschrank sind leer. Haben wir in diesem Moment Hunger, ist es unerlässlich, dass wir uns Lebensmittel besorgen. Hier kommt nun die dritte Kraft ins Spiel, der Such-Pull zur Nahrungsbeschaffung. Wir gehen einkaufen, ins Café um die Ecke oder ins Büro eines Kollegen, um Süßigkeiten zu schnorren. Der Such-Pull ist eine mächtige Kraft. Er kann in Krisenzeiten das Ausmaß einer Naturgewalt annehmen, Menschen zu Dieben und Bettlern machen, den Frieden bedrohen, Gesellschaften zerstören. In der Katastrophenforschung geht man von folgender Annahme aus: Aufgrund eines dramatischen Versorgungsengpasses kommt es in einer Stadt zu einem Ausnahmezustand. Die Lebensmittel werden knapp. Wie lange dauert es, bis die öffentliche Ordnung zusammen- und Anarchie ausbricht? Die Antwort fällt beunruhigend aus. Schon ab sechs fehlenden Mahlzeiten geraten zivilisierte Menschen in einen Energienotstand, der sie in einen verzweifelten Kampf um Nahrungsressourcen stürzt.
Der Brain-Pull – ein primus inter pares
Fassen wir noch einmal die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Pulls zusammen. Obwohl jeder von ihnen sein Kontrollzentrum im Gehirn lokalisiert hat, erhalten sie unterschiedliche Namen. Für die Namensgebung eines Pulls ist jeweils die anfordernde Lieferkettenstation entscheidend: Der Brain-Pull wird so genannt, weil er vom Füllstand des Gehirns abhängt; signalisiert dieses Bedarf, wird über den Brain-Pull Energie aus dem Körper gezogen und ins Hirn transportiert. Der Body-Pull heißt so, weil er vom Energiefüllstand des Körpers abhängt; er zieht Energie aus der näheren Umgebung (z. B. dem Kühlschrank). Der Such-Pull schließlich bezieht sich auf den Energiefüllstand der nahen Umgebung (ist noch Essen da oder muss ich einkaufen?); er zieht Energie aus der entfernteren Umwelt (Markt, Kiosk).
Aber sind alle drei Pulls gleichrangig? Solange alles nach Plan läuft und keine gravierende
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