Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
(Human Growth Hormone). Dieser Botenstoff ist für das Längenwachstum bei Kindern und Jugendlichen essentiell. Er lässt Knochen wachsen, spielt aber auch beim Muskelaufbau und Fettabbau eine entscheidende Rolle. Wachstumshormone sind mit dafür verantwortlich, dass es jungen Menschen leichtfällt, Muskeln aufzubauen, und älteren schwer, Fett abzubauen. Die Arbeit des HGH endet nämlich nicht mit der Einstellung des Längenwachstums. Auch im Körper erwachsener Menschen erfüllt das Hormon substantielle Aufgaben: HGH ist eine wichtige Abteilung im Energiebeschaffungsministerium des Gehirns. Wie wir wissen, ist eigentlich das sympathische Nervensystem dafür zuständig, Energiereserven aus den Körperdepots anzufordern. Doch das gilt nur in wachem Zustand. Im Tiefschlaf ist das Stresssystem lahmgelegt – aus praktischen Gründen: Stressantworten sind mit der normalen Schlafarchitektur unvereinbar, gesunder Schlaf und Stress schließen einander aus. Um trotzdem die Energieversorgung des schlafenden Gehirns zu sichern, kann der Brain-Pull nachts auf das HGH zugreifen. Die Wachstumshormone werden dabei vor allem in der ersten Nachthälfte ausgeschüttet. In dieser Schlafphase wächst der kindliche Körper, der erwachsene wird repariert oder umgebaut: Wundheilung, Zellerneuerung, Muskelaufbau und Fettabbau finden im Wesentlichen in den Nachtschichten des HGH statt. Der Körper wird im Schlaf also zu einer Großbaustelle. Bei diesen Arbeiten entsteht ein hoher Energiebedarf. Da wir im Schlaf nichts essen können, muss die Energie zu hundert Prozent aus den Körperdepots kommen. Genau dafür sorgt das HGH . Und es stellt sicher, dass nicht nur für die Reparaturmaßnahmen, sondern auch für das schlafende Gehirn, das gerade in dieser Phase Gedächtnis bildet, ausreichend Energie zur Verfügung steht. Man ahnt, welche Auswirkungen die Störungen des Systems auf den Körper, seine Gesundheit und Vitalität haben können.
Im Fall von Petr Subotic schien eben dieses System aus dem Ruder gelaufen zu sein, seine HGH -Werte waren deutlich zu niedrig. Der Befund erhärtete Vera Popovics Vermutung, dass die starke Gewichtszunahme auch die Folge eines Hirndefekts sein könnte. Bei seinem Motorradunfall sechs Jahre zuvor hatte sich der ehemalige Handballspieler ein Schädelhirntrauma zugezogen. Beim Abgleich mit weiteren Krankenakten war Popovic aufgefallen, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen einer Schädelverletzung und der Adipositas, die Patienten wie Subotic auffallend häufig nach einem Schädelhirntrauma entwickeln.
Wenn sich Popovics Verdacht weiter erhärten ließ, hieße das: Sogar Gehirnverletzungen, die ansonsten keine medizinisch auffälligen Spätfolgen zeigen, beinträchtigen die Regulation des Körperstoffwechsels so nachhaltig, dass sie zu starkem Übergewicht führen. Bildhaft gesprochen könnte es sich bei solchen Hirnverletzungen um Hardware-Defekte handeln.
In Tierversuchen konnte bereits erwiesen werden, dass eine Hirnschädigung ursächlich zu Übergewicht führt. Im Zentrum der Untersuchungen standen dabei verschiedene Hirnregionen, in denen Schädigungen den Energiehaushalt aus dem Gleichgewicht bringen: der VMH (der ventromediale Hypothalamus) und die Amygdala (Mandelkern). In diesen neuronalen Netzwerken überwacht unser Gehirn den Stoffwechsel, hier wird der Brain-Pull eingestellt, aktiviert und kontrolliert. Mäuse, bei denen der VMH durch einen Eingriff zerstört wurde, entwickelten extremes Übergewicht. Ihr Insulin ist sehr hoch, und sie neigen zu gefährlicher Unterzuckerung, wie wir sie bei Menschen mit Diabetes kennen, die sich zu viel Insulin spritzen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Tierexperimenten, die zu einem Ausfall der Amygdala führen. Schädigungen in diesen Hirnregionen stürzen den Körper in eine Energieverteilungskrise, aus der es kein Entrinnen gibt.
Was dabei genau passiert, können wir mit der »Ampelschaltung« im Gehirn verdeutlichen, von der ich bereits im Einleitungskapitel gesprochen habe. Das Modell zeigt, dass der Zucker im Blut auf zwei verschiedene Straßen geleitet werden kann: ins Gehirn, um dort verbrannt zu werden, oder als Energiereserve in die Fettdepots. Fordert das Gehirn Energie an, werden die Körperdepots geschlossen – hier steht die Ampel dann auf Rot. Signalisiert das Gehirn hingegen, dass sein Energiebedarf gedeckt ist, schaltet die Ampel um und gibt grünes Licht für den Weg in die Depots. Verfügbare Energie kann jetzt im
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