Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
dass bei Studienteilnehmern mit einem Altersdurchschnitt von siebzig Jahren eine Verbindung zwischen Übergewicht und Hirnmassenverlusten bestünde. Die New York Times reagierte darauf mit der Titelschlagzeile »Being fat is bad for your brain« – »Fettsein ist schlecht für dein Gehirn«. Prompt wurde in den Medien die Besorgnis geäußert, Übergewicht könne zu einem Niedergang geistiger Fähigkeiten führen. Nachrichten wie diese tragen zwar das Etikett der Wissenschaftlichkeit, aber hier ist dennoch äußerste Vorsicht geboten: In der von der New York Times zitierten Studie (wie in fast allen anderen Forschungsarbeiten in diesem Zusammenhang) wurden die Probanden nur einmalig untersucht. Um aber Aussagen über Ursache und Wirkung zu machen (Verursacht Übergewicht die Hirngewebsverluste? Oder verursachen die Hirngewebsverluste das Übergewicht?), braucht man mindestens zwei Untersuchungen, die jeweils einige Jahre auseinanderliegen. Nur so kann man klären, was zuerst kommt und was folgt. Die mit der Zeitungsschlagzeile implizierte Schlussfolgerung schießt also über das Ziel hinaus.
Allerdings: Während die erste Kausalität (verursacht Übergewicht die Hirngewebsverluste?) durch die vorgestellten Arbeiten nicht belegt wird, ist die zweite, nämlich dass der Untergang von Hirngewebe zu Übergewicht führt, durchaus wahrscheinlich. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters könnten zerebrale Durchblutungsstörungen für die beobachteten Veränderungen im Gehirn verantwortlich gewesen sein. Wie wir an den in diesem Kapitel bereits beschriebenen experimentellen Befunden gesehen haben, führt eine Mangeldurchblutung des Gehirns (in diesem Fall eine altersbedingte) dazu, dass der Brain-Pull zunächst überaktiviert und auf Dauer überlastet wird; was wiederum oft eine Schädigung und Schwächung des Brain-Pulls nach sich zieht. Als Notlösung wird der Body-Pull aktiviert. Genau darin kann einer der Gründe dafür liegen, dass die älteren Studienteilnehmer übergewichtig wurden.
Es ist schon frappierend, dass der Zusammenhang zwischen einer Störung im Gehirn und den Ursachen von Übergewicht von den Autoren oder Kommentatoren weder bedacht noch diskutiert wurde. Besonders fatal wäre, wenn eine solche Lesart, wie sie auch in dem Artikel der New York Times zutage tritt, zu einer neuen Stigmatisierung übergewichtiger Menschen führte. Denn unbestritten ist: Die Aussage, dass Übergewicht die Ursache für einen Untergang des Gehirns sei, ist derzeit nicht durch klinische Daten zu erhärten.
Belegt ist indes Folgendes: Tatsächlich lässt sich im Hirnenergie-( ATP- )Füllstand kein Unterschied zwischen übergewichtigen und normalgewichtigen Menschen aufdecken; ein Unterschied wäre allenfalls so winzig, dass er sich selbst mit den modernsten heutigen Messverfahren nicht nachweisen lässt. Die Energieversorgung des Gehirns und somit seine normale Leistungsfähigkeit bleiben demnach auch bei einer Brain-Pull-Schwäche erhalten. Die Situation ist durchaus vergleichbar mit der Reaktion der hochsensiblen Heizungsanlage im Museum: Kleinste Abweichungen in der Raumtemperatur oder im Gehirn- ATP führen in beiden Systemen zu großen und prompten Gegenmaßnahmen, um die optimale Raumtemperatur für die Gemälde beziehungsweise die Gehirn-Energie-Homöostase zu gewährleisten.
Ein entsprechender Befund zur Gehirngröße konnte anhand neuester MRT -Studien auch bei jüngeren übergewichtigen Frauen erhoben werden, die mit Kalorienreduktionsdiäten Körpergewicht abgenommen hatten. Die Studie (alle Teilnehmerinnen wurden zweimal – vor und nach der Diät – untersucht) erbrachte zwei wichtige Erkenntnisse: Selbst längere kalorienreduzierte Diäten führen nicht dazu, dass das Gehirn schrumpft! Außerdem wurden die Gehirngrößen der übergewichtigen Frauen mit denen Normalgewichtiger verglichen. Auch hier Entwarnung: Es konnten keine Größenunterschiede festgestellt werden. Diese neuen Experimente zu Hirnenergie-Füllstand und Hirngröße machen eindrucksvoll deutlich, dass das funktionale Prinzip der Selbstversorgung des Gehirns, um sein neuronales System als Ganzes zu erhalten, außerordentlich belastbar ist. Zusammenfassend können wir also feststellen, dass übergewichtige Menschen eine vorliegende Brain-Pull-Inkompetenz kompensieren und so ihren Hirnstoffwechsel ausgeglichen halten können.
Die Fallgeschichten von Petr, Suleiya und Kevin machen eines deutlich: Für Adipositas gibt es nicht nur eine Ursache, sondern
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