Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Fettgewebe gespeichert werden.
Das geschieht so lange, bis die Ausschüttung des Verteilungshormons Leptin dem Ampelrechner das Signal gibt, dass die Fettdepots aufgefüllt sind. Jetzt kann das Gehirn neue Energie aus dem Körper anfordern. Leptin begünstigt also die Ampelphase »Grün Richtung Gehirn« – »Rot Richtung Fettdepot«. Der Ort, an dem diese Botschaften (Energiefüllstand des Gehirns und Füllstand des Fettgewebes) zusammenlaufen und koordiniert werden, ist der VMH . Hier wird die Ampelschaltung den jeweiligen Bedürfnissen im menschlichen Organismus angepasst, damit die Energie jeweils dorthin fließt, wo sie benötigt wird. Ein Hardware-Defekt kann das ganze System zusammenbrechen lassen. Das belegen die Manipulationen an Mäusegehirnen. Und hierin liegt auch eine mögliche Erklärung für das plötzliche Auftreten von Adipositas nach Hirnverletzungen oder verdrängenden Hirntumoren. Tragischerweise sind dies Defekte, die sich nicht beheben lassen. Der Ausfall des VMH oder der Amygdala kann weder vom Gehirn kompensiert noch medizinisch behandelt werden.
Das Energieverteilungssystem des Gehirns ist aber nicht nur bei Hirnverletzungen gefährdet, es ist auch anfällig für andere Störungen. Bildlich gesprochen reicht ein durchtrenntes Kabel aus, um das System lahmzulegen. Unterbindet man zum Beispiel bei Mäusen im Tierversuch lediglich die Leptin-Signalkette, werden sie schnell übergewichtig. Das Leptin wird in diesem Fall zwar noch im Fettgewebe gebildet, aber die Botschaft kommt im VMH nie an. Die Ampelschaltung reagiert so, als wäre der Füllstand im Fettgewebe auf 0, und stellt die Ampel zu den Depots deshalb die meiste Zeit auf Grün. Das hat schwerwiegende Folgen. Da die Speicher jetzt überwiegend offen sind, kommt es zu einer extremen Gewichtszunahme. Aber nicht nur das: Während in den Körper übermäßig viel Energie gepumpt wird, ist das Gehirn in seiner Versorgung aufs Kritischste bedroht. Denn die Ampel, die den Energiefluss regelt, steht in Richtung Gehirn irrtümlicherweise auf Rot. Und nun passiert etwas, das in der Natur nur sehr selten vorkommt: Der genetische Leptin-Defekt führt zu einer derart ausgeprägten Störung, dass das Energiekonto im Gehirn gerade noch im Plus gehalten werden kann. Würde es in ein Minus rutschen und seinen sehr schmalen Dispokredit überziehen, würden seine Nervenzellverbände der Reihe nach zugrunde gehen. Das Energiekonto ausgeglichen zu halten ist für das Gehirn aber nur noch möglich, indem es seine Ausgaben drastisch reduziert. Mit anderen Worten: Es muss seinen Energieverbrauch drosseln. Diese Einsparungen führen dazu, dass die Größenentwicklung des Gehirns unterdurchschnittlich verläuft. Die Messungen zeigen, dass das Hirnwachstum bei den übergewichtigen Mäusen mit der unterbrochenen Leptin-Signalkette deutlich zurückbleibt (ihre Gehirne wogen 25 Prozent weniger als normal). Marie Krieger hatte bei der Obduktion verhungerter Soldaten festgestellt, dass deren Gehirne bis zum Eintritt des Todes den ausgemergelten Körpern noch die letzten Energiereserven abverlangt hatten, um nicht schrumpfen zu müssen. Die genetisch bedingte Leptin-Störung stellt das Energieverteilungsproblem auf den Kopf. Obwohl massenhaft Energie im Körper vorhanden ist, hat das Gehirn kaum mehr Zugriff darauf. Es kann in dieser Situation nur noch an sich selbst sparen, wenn es nicht untergehen will.
Beim Menschen sind – allerdings sehr seltene – Fälle von angeborenem Leptinmangel bekannt. Auch hier ist ein Hardware-Defekt (in diesem Fall eine genetische Fehlentwicklung) die Ursache. Suleiya ist ein neunjähriges pakistanisches Mädchen. Sie wiegt 94 Kilogramm bei einer Köpergröße von 140 cm. Auf Anraten der Ärzte versuchten ihre Eltern zunächst, die Nahrungsaufnahme des Kindes zu kontrollieren, um das Gewicht zu reduzieren. Diese Kontrolle führte bei dem Mädchen zu entzugsartigen Symptomen: Suleiya wurde nervös, zitterig und aggressiv. Dieser Zustand wurde immer schlimmer und hörte erst auf, als sie wieder essen durfte. Damals wusste man allerdings noch nicht, dass Leptinmangel eine mögliche Ursache für Übergewicht ist. Für Suleiya war die Diagnosestellung ein Glücksfall. Ihr konnte geholfen werden: Seit ihrem Körper das Hormon einmal täglich mit der Spritze zugeführt wird, arbeitet ihr Energieverteilungssystem wieder normal.
Ein ähnliches klinisches Bild zeigt der Fall von Kevin, einem siebenjährigen Jungen aus England, der 50
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