Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Kilogramm wiegt (normal wären in diesem Alter 20 bis 30 Kilogramm). Kevin leidet an einer Tr KB -Mutation, einem seltenen Gedächtnis-Gen-Defekt. Dieser bewirkt, dass die Signalverarbeitungen im VMH , der Amygdala und dem Hippocampus massiv gestört sind (gestörter Brain-Pull). Da in diesem Teil des Gehirns aber auch Erinnerungen und Merkfähigkeit verarbeitet werden, hat Kevin hier ebenfalls Defizite. Auffällig ist, dass er nicht in der Lage ist, einen soeben gehörten Namen wenige Momente später wieder zu erinnern. Die Folgen der Gehirnstörung zeigen sich hier also in der gesamten Breite: von kognitiven Defiziten bis zur Gewichtszunahme, verursacht durch eine fehlerhafte Signalverarbeitung in der Energieverwaltung des Gehirns.
Durchblutungsstörungen im Gehirn
Auch schwere Schädigungen des Gehirns, die durch Mangeldurchblutung oder Durchblutungsausfall – wie zum Beispiel bei einer Arterienverkalkung der Hirngefäße – entstehen, ähneln den Hardware-Defekten eines Computers. Permanente Durchblutungsstörungen können den Brain-Pull durch Dauerüberlastung schädigen und damit schwächen. Tierexperimentelle Studien, in denen eine Mangeldurchblutung künstlich herbeigeführt wird, zeigen, wie sich ein solcher Eingriff auf den Brain-Pull und damit auf den Stoffwechsel im gesamten Körper auswirkt. Das schlecht versorgte Gehirn fordert zunächst Energienachschub und aktiviert massiv sein Stresssystem. Das führt in den Versuchen zu einer starken Hemmung der Insulinausschüttung; der Blutzucker steigt, und das Hirn wird mit glukosereicherem Blut versorgt. Dies alles ist das Werk des Brain-Pulls. Bei der Mangeldurchblutung wendet das Gehirn damit genau die gleiche Versorgungsstrategie an, wie wir sie schon bei den »Examenskandidaten« des Trier-Social-Stress-Tests im zweiten Kapitel kennengelernt haben. Der Brain-Pull drosselt in beiden Fällen die Insulinausschüttung.
Was passiert aber, wenn der Durchblutungsengpass dauerhaft anhält, so wie es bei verkalkten Hirngefäßen der Fall ist, oder wenn die Gefäße durch ein Blutgerinnsel verstopft sind? Wie bei der Feder einer Waage, die durch eine Dauerlast irgendwann nachgibt und ausleiert, so nimmt auch der Brain-Pull durch eine derartige allostatische Last Schaden und wird letztlich inkompetent. Der Mensch, der von solchen Problemen betroffen ist, wird mehr essen müssen, um sein mangelhaft durchströmtes Gehirn wenigstens einigermaßen mit glukosereicherem Blut zu versorgen. Ein schlechter Energiefluss kann nämlich durch eine höhere Energiekonzentration im Blut ausgeglichen werden. Eine solche Erhöhung des Blutzuckers, wie sie auch bei vielen Patienten mit akuter zerebraler Mangeldurchblutung im Rahmen eines Schlaganfalls zu beobachten ist, stellt allerdings nur eine Notlösung des Gehirns dar. Hoher Blutzucker nach einem Schlaganfall ist ein Paradebeispiel »allostatischer« Regulation. Das heißt, mit dem höheren Blutzuckerlevel hat sich ein neues Gleichgewicht eingestellt, das zwar nicht gut ist, aber unter den gegebenen Umständen das Beste.
Aber kommen wir noch einmal auf die Labormäuse zurück, die wegen der Unterbrechung in der Leptin-Signalkette eine Störung der Hirnentwicklung aufwiesen. In ihrem Fall würde eine vermehrte Nahrungsaufnahme allein nicht zur vollständigen Lösung des Problems führen. Dafür ist der Defekt zu gravierend. Das Mäuse-Experiment zeigt in seiner ganzen Klarheit, was passiert, wenn der Ampelschalter im Gehirn einen Totalausfall hat: Eine schwere Verteilungsstörung innerhalb des Organismus ist die unausweichliche Folge. Die Tiere können diese nahezu ausweglose Situation nur überleben, wenn sie als Notlösung einerseits kompensatorisch ihre Nahrungsaufnahme steigern und andererseits im Gehirn Energie einsparen. Ihr Übergewicht ist somit eine Folge der angeborenen Störung und nicht die Ursache für die Entwicklungsdefizite im Mäusegehirn. Diese genetische Erkrankung stellt jedoch einen extremen Sonderfall dar, der zwar auch beim Menschen in Einzelfällen vorkommt, aber so selten ist, dass er für die Entstehung von Übergewicht als Massenerkrankung überhaupt keine Rolle spielt.
Vor diesem Hintergrund zu den Ursachen und Folgen von Gehirnschädigungen verwundert es, dass neue Forschungsergebnisse eine sehr befremdliche These aufkommen lassen: die Vermutung, dass nämlich vermehrte Nahrungsaufnahme nicht nur übergewichtig, sondern auch dumm mache. So berichtete ein US -amerikanisches Forscherteam kürzlich,
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