Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
viele verschiedene. Dazu gehören Beschädigungen der neuronalen Netzwerke (Hardware-Defekte), durch die eine Signalverarbeitung im Gehirn nachhaltig behindert wird. Ihre Auswirkungen sind extrem: Das Gehirn verliert dabei die Kontrolle über die Energieverteilung im Körper. Wie entscheidend die Hirnareale VMH und Amygdala für die Energieversorgung und das Körpergewicht sind – auch dies machen die Krankengeschichten von Suleiya und Kevin anschaulich. Hier laufen alle wichtigen Informationen zusammen, hier werden sie verarbeitet, und von hier aus wird die Energieversorgung mit Hilfe der Ampelschaltung reguliert. Alles, was in dieses System eingreift, birgt das Risiko einer Störung. Genetische Defekte, Hirnverletzungen oder auch Hirntumore sind besonders krasse, aber zum Glück nur seltene Ursachen von Adipositas. Es gibt eine viel alltäglichere Bedrohung, die dieses System ebenfalls empfindlich stören kann. Eine Bedrohung, die viele Menschen kennen und täglich erleben: chronischer Stress.
Wie chronischer Stress unser Gehirn programmiert
»Es war das erste Mal, dass er in seiner neuen Universität Logis nahm, und er war so furchterfüllt, dass er auch jetzt noch jede sich bietende Gelegenheit ergriffen hätte, umzukehren und in sein früheres Leben zu entfliehen. Auch die Tatsache, dass er jahrelang auf diesen Augenblick hingearbeitet hatte, änderte daran nichts …« So beschreibt der englische Autor Philip Larkin in seinem Roman Jill die Ankunft des zutiefst verunsicherten Helden John Kemp in Oxford. In Larkins Buch geht es um eine entscheidende Phase auf dem Weg des Erwachsenwerdens – um den ersten Lebensabschnitt fern von zu Hause, um große Erwartungen und den daraus resultierenden Druck, um soziale Anpassung und auch um die erste Liebe.
Neue Lebensumstände stellen uns immer vor besondere Anforderungen. Wie stark der damit verbundene psychosoziale Stress bei Studenten wie John Kemp ist, untersuchte ein britisches Forscherteam. Die Studienteilnehmer waren Studenten im ersten Universitätsjahr. Die Belastungen waren für alle mehr oder weniger gleich. Doch die Art und Weise, mit dem Druck umzugehen, unterschied sich erheblich. Nach Ablauf des ersten Jahres hatten sich drei Gruppenergebnisse herausgebildet, die verschiedener nicht hätten ausfallen können. 40 Prozent der Studienteilnehmer hatten stressbedingt weniger gegessen und abgenommen. Ebenfalls 40 Prozent hatten mehr gegessen und im gleichen Zeitraum an Gewicht zugelegt. Lediglich 20 Prozent zeigten sich unbeeindruckt. Sie änderten weder ihr Essverhalten, noch nahmen sie zu. Ein Ergebnis, das den Wissenschaftlern zunächst Rätsel aufgab: Kann man stressbedingt zu- und abnehmen? Was ist die Erklärung dafür, dass der gleichermaßen erlebte psychosoziale Stress, bedingt durch eine neue Lebens- und Lernsituation, zu völlig gegensätzlichen Veränderungen führen kann?
Bei der genaueren Analyse zeigte sich, dass das Studienergebnis auf eine interessante Analogie zwischen chronischem Stress und depressiven Erkrankungen hindeutete. Depressionen verlaufen in zwei widersprüchlichen Symptombildern: Gewichtsverlust und Schlafstörungen sind Anzeichen einer typischen Depression. Im Labor findet man erhöhte Kortisolwerte als Zeichen eines überaktiven Stresssystems. Die dagegen als atypische Depression bezeichnete Variante zählt dementsprechend viel Essen, Gewichtszunahme, hohes Schlafbedürfnis und Meidung sozialer Kontakte zu ihren Leitsymptomen. Hier ist das Stresssystem eher unteraktiv. Beide Formen haben aber das wesentlichste Kernmerkmal einer Depression gemeinsam: schlechte Stimmung.
Die Erklärung für die paradoxen Stressreaktionen der englischen Studenten findet sich in den unterschiedlichen Strategien zur Dämpfung des Stresssystems: Bei den Probanden der Gruppe A (Wenigesser bei chronischer Stressbelastung) flacht die Stressantwort nicht ab, auch wenn der psychosoziale Stress dabei ist, chronische Züge anzunehmen. Ihr Brain-Pull arbeitet während des gesamten Studienjahres auf Hochtouren. Die Gehirnversorgung aus den Depots des Körpers funktioniert so gut, dass sogar die Nahrungsaufnahme reduziert werden kann. Diese Studenten stehen innerlich unter Strom. Sie sind hellwach, konzentriert, arbeiten viel – spüren aber auch die allostatische Last des Bombardements der Stresshormone. Die Umstellungen und Belastungen des ersten Studienjahres werden von ihnen zwar als anstrengend und kraftraubend empfunden. Doch das permanent auf
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