Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
langes Krebsleiden. Da Familien meistens fester gefügt und enger verbunden sind als andere Gruppen (z. B. Schulfreunde, Arbeitskollegen, Sportverein), wirkt sich eine derart schwere Erkrankung eines Mitglieds immer auch stark auf die übrigen Angehörigen aus. In der Regel können sie die Gruppe nicht verlassen (um so dem Stressor zu entgehen), weil sie emotional stark gebunden sind. In gewisser Weise erkrankt in solchen Fällen oft die ganze Familie. Auf Kleinkinder, Kinder und Jugendliche kann sich die psychische Erkrankung eines Elternteils als ein besonders schwerwiegender lebenslanger Stressor auswirken.
5. Konflikte und Ungewissheit: Auch in diesem Bereich sind junge Menschen besonders betroffen. Vage Berufsaussichten und eine unsichere Lebensplanung bergen hohes Potential für chronischen Stress, vor allem unter Umständen, die zu einer sozialen Benachteiligung führen. In diesem Zusammenhang untersuchten amerikanische Wissenschaftler einen Stressor, der bisher kaum beachtet worden war: »Food insecurity«. Unter diesem Begriff der »Ernährungs-Unsicherheit« verstehen Stressforscher eine Situation, in der sich Betroffene nicht sicher sein können, dass sie über genügend Geld oder andere Mittel verfügen, um die eigene Ernährung oder die der Familie ausreichend zu gewährleisten. Dabei geht es nicht allein um eine real vorhandene prekäre Situation, es reicht bereits das subjektive Empfinden, nicht genug Essen bekommen zu können. Nur ein Teil der Betroffenen leidet tatsächlich Hunger, die übrigen müssen »lediglich« einen erheblichen Mehraufwand betreiben, um ihren Bedarf an Nahrung zu decken. Die Studie wurde mit 8160 Frauen durchgeführt. Nun könnte man meinen, dass es sich um Probandinnen aus einem Krisengebiet Zentralafrikas oder Haitis handelte. Doch das Problem scheint uns gesellschaftlich viel näher zu sein: Die Testkandidatinnen stammten aus dem amerikanischen Bundesstaat Kalifornien, lebten dort allerdings wirtschaftlich an der Armutsgrenze. Also eine Personengruppe, die, auf deutsche Verhältnisse übertragen, mit Hartz- IV -Empfängern vergleichbar wäre. Die Wissenschaftler baten die Studienteilnehmerinnen, Aussagen wie: »Das Essen, das ich gekauft habe, reichte nicht aus, und ich hatte kein Geld, mehr zu kaufen …« oder: »Ich kann mir ausgewogene Mahlzeiten nicht leisten …« als zutreffend oder nicht zutreffend zu bewerten. Das Ergebnis der Studie war ebenso verblüffend wie dramatisch: Frauen, die unter dem Einfluss des Gefühls der »Food insecurity« stehen (ob mit oder ohne Hunger), haben ein um mehr als hundert Prozent erhöhtes Risiko, übergewichtig zu werden, als die Teilnehmerinnen der Vergleichsgruppe. Offenbar wirkt sich dauerhafte »Food insecurity« als starker Stressor auf den Brain-Pull aus und schwächt ihn in vielen Fällen über die Jahre. Allein die Sorge, es könnte Nahrungsengpässe geben, reicht möglicherweise aus, um vom Gehirn als drohende Energiekrise bewertet zu werden. Die Furcht vor zukünftigen Nahrungsengpässen kann das Gehirn also unter enormen Druck setzen, auch wenn die befürchtete Katastrophe nicht immer eintritt. Es ist nämlich – wenigstens was die Menge der Kalorien betrifft – in der Regel immer noch so viel Nahrung verfügbar, dass Menschen mit »Food insecurity« zusätzlich zu ihren anderen Problemen auch noch übergewichtig werden.
Natürlich lassen sich Stressoren nicht immer so klar lokalisieren und eingrenzen. Oft ist es für die Betroffenen sehr schwierig zu erkennen, worin genau ihre Stressoren bestehen. Wer sich jetzt also diese Liste anschaut und das Gefühl hat, in dem einen oder anderen Punkt ein eigenes Problem zu erkennen, sollte eines bedenken: All diese Stressoren können , aber müssen nicht zwangsläufig zu chronischem Stress führen. Grundsätzlich aber gilt:
Kein chronischer Stress entsteht, wenn man in der Lage ist, mit dem jeweiligen Stressor fertig zu werden, und so die Situation meistert. Menschen, denen das gelingt, bewahren ihr gutes Selbstwertgefühl und bleiben gesund, und auch ihre »Gehirn-Architektur« bleibt gesund.
Zu erträglichem chronischen Stress führen Stressoren bei denjenigen Menschen, die über ausreichende Coping-Strategien oder ein gutes soziales Netz verfügen, das sie trägt. Erfolgreiche Coping-Strategien können beispielsweise darin bestehen, dass man eine Trennung mit Hilfe von Tagebucheinträgen aktiv reflektiert, sich so seiner eigentlichen Bedürfnisse gewahr wird und danach
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