Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Hochtouren arbeitende Stresssystem ermöglicht es ihnen, immer wieder neue Energie aufzubringen, obwohl sie gleichzeitig an Körpermasse verlieren.
Die Teilnehmer der Gruppe B (Vielesser bei chronischer Stressbelastung) hingegen haben sich der neuen Situation angepasst, obwohl der Leistungs- und Orientierungsdruck genauso stark auf ihnen lastet. Die Kurve ihrer Stressantwort hat sich in den ersten zwölf Monaten des Studentenlebens deutlich abgeflacht. Verantwortlich dafür ist das Cannabinoid-System, das in dieser Gruppe offenbar stärker wirkt. Es dämpft langfristig über die Ausschüttung von körpereigenen Beruhigungsstoffen das Stresssystem und somit auch dessen Brain-Pull-Funktion. Diese Studenten sind genauso engagiert bei der Sache. Sie sind ebenfalls in der Lage, intensiv zu arbeiten und zu lernen. Doch sie lassen es zumindest innerlich etwas ruhiger angehen. Um dennoch den Ansprüchen des Unterrichtsstoffs zu genügen und die Prüfungen bestehen zu können, benötigt ihr Gehirn mehr Energie, als der Brain-Pull unter dem Einfluss des gedämpften Stresssystems bereitstellen kann. Das Energieplus muss also von außen zugeführt werden, um die vielfältigen Lernaufgaben zu bewältigen. Dabei kommt es aber immer wieder zu Überversorgungen – wohin mit dem Überschuss? Der wird einfach abgespeichert. Dementsprechend legen die Studenten dieser Gruppe im ersten Studienjahr an Gewicht zu.
Die übrigen 20 Prozent gehen offenbar mit den neuen Anforderungen anders um. Es ist denkbar, dass sich ihre Strategie zur Bewältigung der Stressbelastung zwischen A und B bewegt und ihr Gewicht deshalb unauffällig bleibt. Es kann jedoch auch sein, dass die Studenten dieser verbleibenden Gruppe die neue Situation zwar als belastend erleben, aber zum Beispiel von Freunden so gut unterstützt werden, dass sie mit der Situation tatsächlich besser umgehen können (erfolgreiche Coping-Strategien). Oder aber – und das wäre der günstigste Fall – sie sind sehr selbstbewusst und haben das Gefühl, ihre neuen Aufgaben vollständig meistern zu können und die Situation unter Kontrolle zu haben. In diesem Fall wäre das erste Studienjahr für sie definitiv nicht mit chronischem Stress verbunden.
Was die Forschungsarbeit noch interessanter macht, ist die Tatsache, dass die Veränderungen bei der Einstellung des Brain-Pulls der Studienteilnehmer zukunftsweisend sind. Auch wenn Arbeitsroutine einkehrt und die Orientierungsphase abgeschlossen ist, ändert sich an der Stressbewältigungsstrategie in der Regel nichts. Die Studenten der Gruppe A werden auch in Zukunft innerlich hochtouriger laufen und tendenziell schlank bleiben. Die Gruppe B wird hingegen innerlich ruhiger sein und eher zur Gewichtszunahme neigen. In beiden Fällen hat chronischer Stress eine tiefgreifende Umprogrammierung des Energiestoffwechsels vorgenommen.
Warum man zur Gruppe A oder B gehört, ist schwer zu beantworten. Unsere Strategien und Muster, mit chronischem Stress umzugehen, hängen von vielen verschiedenen Faktoren ab. Faktoren, die in unserer Biographie liegen oder in unseren Genen und manchmal über Generationen weitervererbt werden. Aber mit diesem Aspekt von chronischem Stress werden wir uns im übernächsten Kapitel noch eingehender beschäftigen.
Bleibt die Frage: Wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre, welcher Gruppe würde man selbst am liebsten angehören? Nehmen wir einmal die restlichen 20 Prozent aus, würden viele vielleicht zu A tendieren. Die Studenten mit dem vermeintlichen Erfolgsgen: schlank, zielstrebig, engagiert, mit einem ausgeprägt starken Brain-Pull. Die Sache hat allerdings einen Haken: Menschen mit einem derartigen Stressverarbeitungsprofil sind keine versierten Verlierer. Sie können Niederlagen nicht gut verarbeiten. Wenn ihre Bemühungen gar zu scheitern drohen, ist ihr Risiko, an einer Depression zu erkranken, besonders hoch. Typ B ist innerlich eher ruhiger. Sein Erfolg beruht auf Ausdauer und Hartnäckigkeit. Die Dämpfung seines Stresssystems macht ihn zwar etwas fülliger, schützt ihn aber auch vor Depressionen. In beiden Fällen bleiben der Druck und die Anspannung aber auf Dauer nicht folgenlos: Wer von chronischem Stress stark belastet ist, wird depressiv oder dick.
Dass der Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt andere Anforderungen und möglicherweise auch Belastungen mit sich bringt, ist wohl für jeden nachvollziehbar. Doch chronischer Stress kann nicht nur entstehen, wenn wir uns verändern. Im Gegenteil:
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