Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Diskussion vorausging. Wie dem auch sei: Das Konditionierungsexperiment mit Vorschülern ist aufschlussreich, weil es eine Situation simuliert, der Kinder tagtäglich ausgesetzt sind: den Signalen des Werbefernsehens. Aber dazu später mehr.
Ausschlaggebend für den Studienaufbau in der Kindertagesstätte waren aber nicht Pawlows Versuche, sondern ein Experiment nach dem Vorbild der klassischen Konditionierung, das der amerikanische Psychologe Harvey Weingarten 1983 an Ratten durchgeführt hatte. Dabei ging es auch um Signale – sogenannte »Cues« (aus dem Englischen: Hinweise, Fingerzeige) –, die die Nagetiere nach einer Trainingsphase zur Nahrungsaufnahme anregten. Weingarten beobachtete, dass die Nager auch dann auf den Cue (ein kombiniertes Ton- und Lichtsignal) mit Fressen reagierten, wenn sie bereits satt waren. Ihm war klar, dass er auf eine wichtige Entdeckung gestoßen war, aber seine Schlussfolgerungen sollten sich als voreilig erweisen. Weingarten äußerte nämlich die Vermutung, es gebe einen Botenstoff, der den Stoffwechsel unabhängig von seinem Energiebedarf kontrolliere.
Man kann sich vorstellen, welche elektrisierende Wirkung diese Vermutung auf die Werbebranche und die Food-Industrie hatte. Wenn es gelänge, diesen Botenstoff zum Beispiel mit Werbebotschaften zu aktivieren, wäre es so, als habe man Zugang zu einem Schalter im Menschen, mit dem man ihn auf Essen und damit auf Konsumieren programmieren könnte! Tatsächlich kommt diese Beschreibung des Vorgangs der Realität letztendlich ziemlich nahe – nur ist der Weg dorthin ein anderer, als Weingarten vermutete.
Können Food-Cues unsere
Energieverwaltung manipulieren?
Im Jahr 2000 wurde die aus Serbien stammende Neurobiologin Gorica Petrovich auf die Arbeiten von Weingarten aufmerksam. Die Schülerin von Larry W. Swanson, jenem Neuroanatomen von der University of Southern California, den wir bereits kennengelernt haben, wollte Weingartens These vom Botenstoff, der die Nahrungsaufnahme unabhängig vom Energiehaushalt reguliert, auf den Grund gehen. Sie wiederholte seine Experimente, mit dem Unterschied, dass sie bei den Versuchstieren zuvor in einer Operation verschiedene Nervenbahnen im Gehirn der Reihe nach durchtrennte. Als sie die Verbindung zwischen der Amygdala und dem Lateralen Hypothalamus ( LH ) kappte, passierte etwas Erstaunliches: Die Konditionierung versagte. Die Tiere reagierten nicht mehr auf das Fresssignal und verhielten sich, als hätten sie es nie gelernt. Wo Weingarten nur spekulieren konnte, hatte Petrovich wichtige Erkenntnisse geliefert, wie und wo Food-Cues auf das Gehirn einwirken: Die Konditionierung ereignet sich demnach in der Amygdala, jenem Teil unseres Gehirns, in dem auch starke Emotionen wie Angst, Fluchtreflexe etc. entstehen. Hier sind auch genau die Zellen in Aktion, die den Brain-Pull generieren. Der Brain-Pull selbst befindet sich in einem niedertourigen Aktivitätszustand – wie ein Motor im Leerlauf, bei dem sich durch das Drücken des Gaspedals die Drehzahl aber jederzeit erhöhen lässt. Die Amygdala ( AMY ) ist dieses Gaspedal. Sie aktiviert den Brain-Pull im Hypothalamus ( VMH )(Abbildung 4a).
Die Botschaft, dass der Food-Cue erkannt worden ist, empfangen die Neuronen der Amygdala vom Präfrontalen Kortex ( PFC ), dem anderen Teil des emotionalen Gehirns. Die Amygdala wäre bereit, auf Stressoren zu reagieren (sie würde über absteigende Nervenbahnen zum Hypothalamus »Gas geben« und den Brain-Pull aktivieren [ VMH ] und über andere parallelverlaufende Bahnen die Nahrungsaufnahme [ LH ] unterbinden) – doch es kommt anders: In dem Moment, in dem der Präfrontale Kortex der Amygdala signalisiert hat, dass der Food-Cue erkannt worden ist, führt dies dazu, dass in der Amygdala die Brain-Pull-Neuronen stark gedämpft werden. Jetzt ist alles auf Nahrungsaufnahme eingestellt (Abbildung 4b).
Cues sind also in der Lage, das Gehirn davon zu überzeugen, dass ein Engpass der Energieversorgung unmittelbar bevorsteht – selbst wenn sich eigentlich genügend Glukose im Blut befindet. Und ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung tritt dieser Zustand auch tatsächlich ein: Das eigentlich gut versorgte Gehirn reagiert auf den Cue, dämpft den Brain-Pull und bereitet sich auf die Nahrungsaufnahme vor.
Was aber passiert, wenn die Nahrung nicht kommt? Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass wir dem Cue nicht nachgeben (wir sind auf Diät und verkneifen uns den Extra-Energiehappen – oder
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