Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
wir haben gerade nichts Kalorienhaltiges zur Verfügung). Wenn der Brain-Pull außer Kraft ist und kein Essen kommt, dann – und das ließ sich kürzlich experimentell nachweisen – zeigt sich tatsächlich eine Neuroglukopenie, eine Energiekrise im Gehirn!
Abbildung 4a
Gefahr im Verzug – wie das Stresssystem den Brain-Pull aktiviert.
Ein Mensch bemerkt einen Stressor (z. B. einen gefährlichen Hund). Um dieser potentiellen Gefahr möglichst effektiv zu begegnen – etwa durch Flucht oder Kampf –, benötigt das Gehirn mehr Treibstoff. Zur Energiebeschaffung wird der stressauslösende Reiz in die Amygdala ( AMY ) geleitet. Diese Hirnregion befindet sich in der obersten Etage des Stresssystems, also auf der Befehlsebene (zu den verschiedenen Etagen vgl. Abb. 2 zum Palladio-Palast auf Seite 70). Von dort aus wird der ventromediale Hypothalamus ( VMH ) in der mittleren Etage des Stresssystems aktiviert. Die nächsten Stationen der Befehlskette liegen auf der untersten Etage: Die Nebennieren werden angewiesen, mehr Adrenalin auszuschütten, die Betazellen erhalten den Befehl, weniger Insulin freizusetzen. Mit diesen Maßnahmen übt das Stresssystem die Brain-Pull-Funktion aus und stellt dem Gehirn die in der Stresssituation benötigte Extra-Energie aus den Körperreserven zur Verfügung.
Abbildung 4b
Appetitive Konditionierung: Wenn ein Signal unsere Nahrungsaufnahme beeinflusst.
Unter Konditionierung versteht man einen komplexen Lernprozess, bei dem ein bestimmter Reiz eine bestimmte Reaktion auslöst. Es gibt dabei eine Vielzahl von möglichen Signalen (Cues), die einen Menschen konditionieren können, wenn sie die Nahrungsaufnahme begleiten. Er sieht oder hört einen bestimmten Cue (ein Musikstück, einen Werbejingle), bevor oder während er etwas isst. Wenn der Reiz das Gehirn erreicht, durchläuft er erst den Präfrontalen Kortex ( PFC ). Danach passiert er die Amygdala ( AMY ). Das führt dazu, dass die Amygdala-Neuronen, die zur obersten Etage des Stresssystems gehören, unterdrückt werden. Die AMY ist jetzt in ihrer Funktion, den lateralen Hypothalamus ( LH ) zu kontrollieren und zu hemmen, geschwächt. Auf diese Weise »entfesselt« der Cue den LH , also die Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme (Body-Pull). Und der kann sich durchsetzen, weil in dieser Konstellation die mittlere Etage des Stresssystems ( VMH ) nur wenig aktiv ist; derBrain-Pull ist also ebenfalls blockiert, so dass die Körperdepots für die Nahrungsaufnahme geöffnet werden. Bei der appetitiven Konditionierung wird in der AMY diese Form der Verknüpfung zwischen »Cue und Essen« gelernt und gefestigt. Ist der Cue einmal verinnerlicht, wird die Reaktion jedes Mal nach dem gleichen Muster ablaufen.
Sobald der Cue dafür sorgt, dass der Brain-Pull gehemmt wird, gerät nämlich die Energieversorgung des Gehirns in eine bedrohliche Lage. Und zwar unabhängig davon, wie viel vorher gegessen wurde oder wie viel Energie noch in den Körperspeichern zur Verfügung steht. Entscheidend ist einzig der Umstand, dass das Gehirn von dieser Energiezufuhr abgeschnitten wird. Egal, ob tatsächlich eine Unterversorgung droht oder nicht: Für das Gehirn fühlt es sich in jedem Fall so an, als würden seine Speicher gleich leerlaufen. Und das hat Folgen. Als Gegenmaßnahme wird sofort der Body-Pull, also das Signal zur Nahrungsaufnahme, ausgelöst. Denn unter dem hemmenden Einfluss des Cues sind die Amygdala-Zellen nicht mehr in der Lage, über ihre absteigenden Nervenverbindungen zum LH den Body-Pull zu unterdrücken. Der Body-Pull wird durch den Cue gewissermaßen entfesselt, und wir essen, auch wenn die Körperspeicher noch randvoll sind.
Genau diese Zusammenhänge konnte Petrovich dadurch belegen, dass sie in ihren Experimenten nach einer intelligenten Vorgehensweise das Zusammenspiel zwischen Präfrontalem Kortex, Amygdala und LH aufgedeckt hat. Weingartens Denkfehler bestand in der Annahme, der Vorgang des konditionierten Fressens habe nichts mit dem Energiebedarf seiner Versuchstiere zu tun. In Wahrheit sorgte der Cue dafür, dass die Gehirne der Nager vom Energienachschub regelrecht abgeschnitten wurden. Deswegen fraßen sie, obwohl ihre Körperspeicher randvoll waren, als das Signal ertönte.
An dieser Stelle wird erneut deutlich, wie entscheidend die Balance zwischen Gehirn- und Körperenergie ist – auch beim Menschen. Der Übergewichtige hat eine Energieverteilungsstörung: Je weniger Energie in sein Gehirn fließt, desto voller sind
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