Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
werfen wir doch noch einen Blick auf eine der ausgefeiltesten Cue-Situationen, in die wir uns regelmäßig genüsslich begeben. Gehen wir ins Kino. Was dort schon im Vorraum auffällt, an den Verkaufsständen, ist die Entwicklung der Snack-Portionen in den vergangenen zwanzig Jahren. Die obligatorische Cola-Flasche (einst 0,2 l) wurde von immer größeren Getränkebechern verdrängt. Heute kann man Cola oder andere Getränke in riesigen 1,5-Liter-Behältern kaufen. Auch die große Popcornportion wird nicht mehr in der Tüte, sondern im xxl -Eimer gereicht. Der Kinobesuch gerät so zum Nonstop-Snack. Für die Kinobetreiber ist diese Entwicklung natürlich positiv, schließlich verdienen sie ihr Geld vor allem mit Snacks und Getränken (vom Eintritt geht der Löwenanteil an den Filmverleih).
Warum sind eigentlich so viele Kalorien für einen Kinobesuch nötig? Oder anders gefragt: Warum versetzt Kino unser Gehirn in einen Zustand, bei dem sein Energiebedarf sehr hoch zu sein scheint? Abgesehen von den entsprechenden Cues der Werbung (überwiegend für Alkoholika, Eis und Zigaretten), ist es das moderne Unterhaltungskino selbst, das unser Gehirn in permanente Ausnahmezustände versetzt. Schnelle Schnitte, überwältigende Spezialeffekte, explizite Brutalität, Horrorbilder und die neue 3-D-Technologie sind die Zutaten des großen Kinospektakels. Die dabei entstehende Reizflut versetzt – sagen wir – 120 Amygdalas und ihre Besitzer in einem Kinosaal in eine andauernde Alarmbereitschaft. Man kann sich das so vorstellen: Unser Gehirn besteht aus Arealen, die aus verschiedenen Epochen der menschlichen Entwicklung stammen. Wenn wir uns also einen beängstigenden Horrorfilm ansehen, in dem lebende menschliche Körper zersägt werden, nehmen die in der Evolutionsgeschichte jüngeren Hirnrindenareale (vor allem der oben erwähnte Präfrontale Kortex) diese schrecklichen Bilder als Teil der filmischen Fiktion wahr. Unser Verstand ist in der Lage zu relativieren. Er weiß, dass die Bedrohung des Gesehenen nicht real ist. Die Botschaft der Bilder erreicht aber auch das Angst-, Flucht- und Reflexzentrum des Gehirns. Die Amygdala ist einer der entwicklungsgeschichtlich älteren Teile des Gehirns, und sie wird nicht nur durch reale, sondern auch durch virtuelle Gefahren in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Während also spannende oder gewalttätige Szenen auf der Leinwand erscheinen, reagiert die Amygdala wie in einer echten Gefahrensituation, indem sie die Informationsverarbeitung der beteiligten Nervenzellverbände im Gehirn auf Höchstgeschwindigkeit bringt. Eine höhere Geschwindigkeit bedeutet auch einen gesteigerten Energiebedarf. Zunächst wird der Brain-Pull durch die Gewaltszenen aktiviert. Kann er aber während der zweistündigen Emotionslawine nicht genügend Nachschub liefern, kommt der Body-Pull ins Spiel – und damit die großen Popcorneimer, die Tacos, das Eis, die Süßigkeiten.
Interessant ist die Tatsache, dass wir Kinobesucher uns schon vor dem Film bevorraten und auch bereits mit dem Verzehr beginnen, bevor die dramatischen Filmereignisse, die unser Gehirn so sehr beschäftigen werden, auf unserer Netzhaut erscheinen. Möglicherweise ist auch dies eine Konditionierung – die gesamte Kinosituation als ein großer Cue. Denkbar ist, dass wir aus unseren aufregenden und aufpeitschenden Kinoerfahrungen der Vergangenheit gelernt haben, uns mit Kalorien zu wappnen, weil unser Gehirn sie in den kommenden 120 Minuten garantiert abfordern wird. Dazu gibt es bisher keine Studie, ebenso wenig wie zu der Vermutung, dass die verkauften und verzehrten Popcornrationen mit der Altersfreigabe steigen. Filme ab 18 – gemeint sind hier Horror- und Gewaltfilme – würden demnach den höchsten Verzehr nach sich ziehen.
Wie stark Cues unseren Hirnstoffwechsel und damit auch unser Gewicht beeinflussen können, ist nicht zu unterschätzen. Jeder Cue leitet einen neuronalen Lernprozess ein. Wenn auch ein Cue allein relativ wenig verändert, so können jedoch viele Cues bewirken, dass Teile des Gehirns umprogrammiert werden – wie die Software eines Computers. Und das Fatale ist: Diese Veränderung ist so tiefgreifend, dass sie sich nicht wieder rückgängig machen lässt. Um das nachvollziehen zu können, müssen wir verstehen, wie jedes einzelne Neuron Erfahrungen abspeichert: Jede Nervenzelle erhält zahlreiche Signale von benachbarten Nervenzellen. Die Stelle, an der eine solche Nachbarzelle Kontakt aufnimmt, heißt
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