Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
niederländische Epidemiologin Tessa J. Roseboom untersuchte, wie sich die plötzlich eintretende Nahrungsverknappung mit all ihren emotionalen Begleitumständen (Stress, weil man Angst hat zu verhungern oder zu erfrieren) auf die ungeborenen Kinder im Mutterleib auswirkte. Das Ergebnis dieser Dutch-Famine-Studie ist weniger überraschend, aber umso dramatischer: Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Fehlernährung und eine intensive Form von Stress in der Schwangerschaft den Stoffwechsel des dadurch in Mitleidenschaft gezogenen Kindes für den Rest seines Lebens prägen und belasten. Die Hypothese lautet daher: Traumatischer Stress vor, während oder kurz nach der Geburt führt bei betroffenen Kindern bereits beim Start ins Leben zu dauerhaften negativen Anpassungen im Stresssystem, macht dick und verkürzt die Lebenserwartung. Mit anderen Worten: Trifft diese Hypothese zu, wird bereits im Mutterleib ein entscheidendes Kapitel unserer individuellen Stressbiographie geschrieben.
Unsere ganz persönliche Stressbiographie
Jeder Mensch hat seine eigene Stressbiographie. Hier sind nicht nur Krisen, Konflikte und traumatische Erlebnisse verzeichnet, sondern wird auch festgehalten, wie sie vom Stresssystem bewältigt werden. Diese Erfahrungs- und Verhaltensmuster prägen die Stressantwort, sie bestimmen letztlich, wie empfindlich ein Stresssystem reagiert, wie schnell es wieder in die Ruhelage kommt und wie effektiv es arbeitet. Das Stresssystem eines Menschen mit seinen vielfältig ausgebildeten neuronalen Netzwerken ist so unverwechselbar wie sein Fingerabdruck.
Inwieweit sich das Aktivitätslevel des Stresssystems programmieren lässt und in welchem Lebensabschnitt das Gehirn für solche Programmierungen besonders empfänglich ist, das waren die Kernfragen einer aufsehenerregenden Studie, die der kanadische Stressforscher Michael Meaney mit Ratten durchgeführt hat. Er legte zunächst Stressbiographien von Laborratten an. Dabei unterschied er im Wesentlichen zwei Gruppen: Es gab Ratten mit liebevollen Müttern und so etwas wie einer perfekten Tierkindheit. Die Nager der Gruppe 2 wuchsen unter nahezu identischen Bedingungen auf – mit einer Einschränkung: Ihre Mütter kümmerten sich während einer kurzen Phase nach der Geburt kaum um ihren Nachwuchs. Der Unterschied war frappierend. Die Ratten, die vorübergehend vernachlässigt worden waren, entwickelten deutlich höhere Blutwerte des Stresshormons Kortisol – und behielten diese lebenslang bei.
Drei Umstände machen Meaneys Entdeckungen so brisant. Erstens der Zeitfaktor: Es genügten nur einige wenige Tage Vernachlässigung nach der Geburt, um das junge Versuchstier auf eine Dauerstressreaktion zu programmieren. Zweitens die Stabilität: Diese Programmierung ist langzeitstabil, das heißt, sie hält lebenslang. Drittens der Vererbungsfaktor: Meaney gelang es nachzuweisen, dass diese Programmierung sogar an Nachkommen weitergegeben wird. Er hatte beobachtet, dass die von ihren Müttern (Generation F0) wenig umsorgten Ratten (Generation F1) ihre Stresssystemeinstellung an ihre Nachkommen (Generation F2) weitergaben. Bei ihnen ließen sich die gleichen Veränderungen im Stresssystem nachweisen wie bei ihren Eltern.
Ungeklärt war zunächst, über welchen Mechanismus belastende Ereignisse das Stresssystem eines jungen Säugetiers derart manipulieren können. In einem nächsten Schritt untersuchte Meaney deshalb die Kortisolrezeptoren ( GR ) im Hippocampus der Ratten mit den unterschiedlichen Stressbiographien. Diese Kortisolrezeptoren fungieren, wie schon beschrieben, als natürliche Bremse des Stresssystems im Gehirn. Seine Nachforschungen ergaben, dass die Tiere, die nach der Geburt vernachlässigt worden waren, zu wenige dieser Kortisolrezeptoren im Gehirn produzierten. Das Dämpfungshormon konnte also nur schwach wirken, die Stressbremse war nicht mehr so effektiv. Meaney fand auch die Ursache dieser Veränderung heraus, und diese Entdeckung ist eine große wissenschaftliche Sensation. Denn die Programmierung des Stressprogramms verläuft nicht über die Gene, sondern epigenetisch. Darunter versteht man Entwicklungsvorgänge, die auf der Grundlage genetischer Anlagen durch Umwelteinflüsse gesteuert werden können. Anschaulicher gesagt: Es geht hier um den Unterschied zwischen festgelegten Erbanlagen (Gene) und Programmen oder Einheiten, die Gene an- oder ausschalten. Meaney fand eine solche Regulierungseinheit, gewissermaßen den Aktivierungsknopf des GR
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