Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
gehen – etwa wenn wir uns in Gefahr befinden. Eine Stressreaktion zeigen wir aber auch in Situationen, die eigentlich überhaupt nicht gefährlich für unser körperliches Wohl sind, denen wir aber eine große Bedeutung beimessen, wie etwa eine Prüfung. Stressreaktionen können Ursachen haben, die uns klar oder völlig unklar sind. Physiologisch gesehen hat das Stresssystem die Aufgabe, dem Gehirn und den Muskeln zusätzliche Energie zur Verfügung zu stellen, um besser denken oder schneller Befehle zum Handeln geben zu können, damit wir mit dem ursächlichen Stressor fertig werden können. Was aber passiert genau, wenn unser Nervensystem auf einen Stressor mit einer Stressreaktion reagiert?
Vor 100 000 Jahren war ein Säbelzahntiger sicher einer der größten Stressoren, denen ein Wesen der Art Homo sapiens begegnen konnte. Im Gehirn unserer Ahnen löste der Anblick dieses Räubers eine ganze Kaskade von Alarmsignalen aus (Adrenalin, Noradrenalin, Erregung, gesteigerte Wachheit oder Aufmerksamkeit, Verkürzung der Reaktionszeit usw.). Akuter Stress führt aber damals wie heute nicht nur zu einem neuronalen und hormonellen Gewitter. Stressoren erhöhen auch den Energiebedarf des Gehirns und seine Energieanforderungen. Was folgt, ist eine Kettenreaktion: Das sympathische Nervensystem arbeitet auf Hochtouren. Adrenalin wird aus der Nebenniere ausgeschüttet. Der Brain-Pull wird erhöht, um Energiereserven aus der Leber und dem Muskel- und Fettgewebe abzurufen. Wenn die äußere Gefahr vorüber ist, beendet das aus der Nebenniere ausgeschüttete Hormon Kortisol die Stressreaktion.
Säbelzahntiger gibt es nicht mehr, und Stressoren, durch die wir in Todesgefahr geraten, begegnen wir zum Glück nur selten. Heute sind es andere Faktoren, die uns um unsere Ruhe und unser inneres Gleichgewicht bringen: die sogenannten psychosozialen Stressoren (Einsamkeit, zu hohe schulische oder berufliche Anforderungen, physische oder verbale Gewalt in der Familie, um nur einige Beispiele zu nennen). Und die haben die unangenehme Angewohnheit, nicht nach einer Schrecksekunde einfach wieder im Unterholz zu verschwinden. Der »Vorteil« einer akuten Gefahrensituation ist nun einmal die Tatsache, dass sie nur von kurzer Dauer ist. Es gibt ein klares vorher , währenddessen und danach . Dementsprechend steil steigt und fällt die Verlaufskurve der inneren Stressreaktion. Psychosozialer Stress hingegen ist wesentlich subtiler. Ein einziger Streit mit einem Vorgesetzten kann die Arbeitsatmosphäre für einen längeren Zeitraum vergiften. Ein Vater, der zu unberechenbaren Wutanfällen neigt, setzt seine Familie unter permanenten psychischen Druck, weil man nie weiß, wann der nächste Ausbruch erfolgt. Und auch eine Gehässigkeit im Klassenraum kann zum Auslöser für eine lange Leidenszeit werden: Die Bemerkung verunsichert, schürt Ängste vor einer Wiederholung, führt zu einem inneren und äußeren Rückzug. Psychosozialer Stress entsteht also häufig durch unberechenbare Situationen in unserem Umfeld, die uns schwer zu schaffen machen.
Wesentliche Merkmale psychosozialer Gruppen, die gut funktionieren, sind dagegen: klare Regeln, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Vertrauen, Transparenz, Respekt, psychische Stabilität aller Mitglieder. Der Mensch möchte als soziales Wesen einer Gruppe angehören. Dieses Bedürfnis ist tief in uns verankert. Bei den Jägern und Sammlern war die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ohne Alternative. Als Einzelner hatte man auf Dauer keine Chance, zu überleben. Aus einer Gruppe oder Gemeinschaft ausgestoßen zu werden war eine der schwersten Strafen – ein Todesurteil auf Raten. Aber auch heute noch empfinden wir das Ausgeschlossenwerden als schwere persönliche Kränkung und Demütigung. Besonders für Kinder und Jugendliche ist eine solche Situation schmerzhaft, vor allem, weil sie noch nicht über Strategien verfügen, damit umzugehen. Mancher Erwachsene wiederum wird die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses als soziale Ausgrenzung erleben. Wer seinen Job verliert, büßt nicht nur sein Einkommen ein, sondern auch die berufliche Anerkennung, die Gruppenzugehörigkeit.
In internationalen Studien zum Glücksempfinden schneiden Industrienationen überraschenderweise meist schlechter ab als Länder, in denen die Bevölkerung mit einem deutlich geringeren Einkommen auskommen muss. Möglicherweise liegt das daran, dass es weniger Stress verursacht, in einer Gesellschaft zu leben, in der es kein – oder nur
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